Der Letzte Atemzug

Allāh, der Allwahre, hat die Eigenschaft ewigen Bestehens [baqā’] in diesem Universum allein sich selbst vorbehalten. Aus diesem Grunde unterliegt – abgesehen von Seinem erhabenen Wesen – alles, was existiert, der Vergänglichkeit. Dementsprechend heißt es in einem der edlen Verse des heiligen Qur’ān:

كُلُّ مَنْ عَلَيْهَا فَانٍ

{Alles, was auf ihr (der Erde) existiert, ist vergänglich.}, und dies manifestiert sich in der mit den Worten

كُلُّ نَفْسٍ ذَآئِقَةُ الْمَوْتِ

{Jede Seele wird den Tod schmecken.} verkündeten Wirklich-keit. Unter diesem Gesichtspunkt ist es dringend notwendig, dass der Mensch jeden Augenblick seines Lebens in bewusstem Nachdenken [tafakkur] über diese Tatsache verbringt. Deshalb heißt es in einem weiteren Vers:

َوَجَاءَتْ سَكْرَةُ الْمَوْتِ بِالْحَقِّ ذَلِكَ مَا كُنْتَ مِنْهُ تَحِيدُ

{Und die Trunkenheit des Todes wird mit der Wahrheit kom­men: „Das ist es, wovor du auszuweichen pfleg­test!“}

Der Mensch wurde in diese vergängliche Welt geschickt, um darin geprüft zu werden. Sein wichtigstes Bestreben sollte deshalb darin bestehen, das Wohlgefallen Allāhs, des Erhabenen, zu erringen, um in die Heimstätte des Friedens, das Paradies, den Hort ewigen Friedens und höchster Glückseligkeit, einzugehen. Der Weg dorthin besteht in dem Bemühen, zu jenen zu gehören, welche die mit den Worten

يَوْمَ لَا يَنْفَعُ مَالٌ وَلَا بَنُونَ إِلَّا مَنْ أَتَى اللّٰهَ بِقَلْبٍ سَلِيمٍ

{An jenem Tage werden weder Besitz noch Nachkommen etwas nützen, sondern nur, wenn jemand mit reinem Herzen zu Allāh kommt.} beschriebene Stufe verwirklicht haben.

Dies wiederum ist nur durch Erziehung des menschlichen Egos [nafs] möglich. Der Kern der Erziehung des Nafs besteht in vollkommener Ergebenheit gegenüber dem Gesandten Allāhs – Segen und Friede seien auf ihm – sowie in enger Verbundenheit mit ihm und Gehorsam ihm gegenüber. Das bedeutet, Anteil an dem dreiundzwanzig Jahre währenden Zeitraum seines Prophetentums zu nehmen oder, besser gesagt, in die Sphären der Herzenswelt des ehrwürdigen Propheten – Allāh segne ihn und schenke ihm Frieden – einzutauchen. Denn Allāh, der Allwahre, hat den edlen Qur’ān durch den Erzengel Jibrīl direkt ins Herz des Gesandten Allāhs – Segen und Friede seien auf ihnen beiden – herabgesandt. Infolgedessen sind alle gottesdienstlichen Handlungen [‘ibāda], Aussprüche, Verhaltensweisen und Taten des Gesandten Allāhs – Segen und Friede seien auf ihm – Erklärungen zur Verdeutlichung der Bedeutungen des edlen Qur’ān. Angesichts dieser Wirklichkeit ist es notwendig, den ehrwürdigen Propheten – Allāh segne ihn und schenke ihm Frieden – in dem Bestreben, einen Anteil an seiner Herzenswelt zu erwerben, mehr zu lieben als das eigene Leben, materiellen Besitz, die eigene Familie und Verwandten und alles andere auf der Welt. Diese Liebe erfüllt das Innere des Gottesdieners mit der Liebe Allāhs, des Allwahren. Denn den Propheten – Allāh segne ihn und schenke ihm Frieden – zu lieben, bedeutet, Allāh zu lieben, und Allāh zu lieben, heißt, ihn zu lieben. Um an sein Ziel in der göttlichen Gegenwart zu gelangen, ist es für das Herz in der Tat unerlässlich, diese Stufe zu erreichen.

All dies sind nützliche Schritte in Vorbereitung auf den letzten Atemzug. Alle vorherigen Atemzüge verhalten sich zu diesem letzten Atemzug in ähnlicher Weise wie die Tropfen, die ein Glas füllen, zu jenem letzten Tropfen, der es zum Überlaufen bringt. Das heißt, unser letzter Atemzug ist das Ergebnis all unserer vorherigen Atemzüge. Deshalb hängt unser letzter Atemzug davon ab, wie wir die uns in der Gegenwart zur Verfügung stehenden Atemzüge nutzen. Jene erlesenen Gottesdiener, die ihr Leben in hingebungsvoller Liebe zu Allāh und Seinem Gesandten verbracht und es in rechtschaffener Beharrlichkeit auf dem Weg des Allmächtigen mit der Zierde rechtschaffener Taten geschmückt haben, tun mit den Worten des Glaubensbekenntnisses auf den Lippen ihren letzten Atemzug und ziehen dahin in die Gefilde ewiger Glückseligkeit. Ihnen wird die frohe Botschaft zuteil, die der ehrwürdige Prophet – Allāh segne ihn und schenke ihm Frieden – verkündete, indem er sagte: „Wer während seines letzten Atemzuges (aufrichtig) das Bekenntnis der göttlichen Einheit [kalimat al-tauhīd] ausspricht, der wird ins Paradies eingehen.“

Das heißt, dass diejenigen, die ihr Leben im Bewusstsein der göttlichen Einheit entsprechend dem Bekenntnis Lā ilāha illā Allāh [Es gibt keine Gottheit außer Allāh] verbracht haben, mit ihrem letzten Atemzug die Reise in die erhabene Gegenwart Allāhs, des Allwahren, antreten. Denn mit der absoluten Negation durch das Wort „Lā“ haben sie alle vergänglichen, Göttlichkeit zuschreibenden und von egoistischen Wünschen bestimmten Vorstellungen und Götzen aus dem Herzen geworfen und dieses anschließend durch das Wort „illā“ mit aufrichtiger, allein Allāh, dem Allwahren, geltender Gottesliebe erfüllt.

Man sollte sich bewusst sein, dass dieses, von den Händen der Macht erschaffene und mit tausendundeiner Zierde versehene Universum nicht mehr als ein der Vergänglichkeit unterworfener, vorübergehender Aufenthaltsort ist. Dabei ist in diesem Universum nichts ohne Sinn erschaffen. Für den Menschen besteht der Sinn seines irdischen Lebens in der Möglichkeit, ewige Glückseligkeit im Jenseits zu erlangen. Aus diesem Grunde ermahnt unser Herr Seine Diener mit den Worten:

يَا أَيُّهَا الَّذِينَ آمَنُواْ اتَّقُواْ اللّٰهََ حَقَّ تُقَاتِهِ

وَلاَ تَمُوتُنَّ إِلاَّ وَأَنتُم مُّسْلِمُونَ

{O ihr, die ihr glaubt, fürchtet Allāh wie es Ihm gebührt und sterbt nicht anders denn als gläubig Gottergebene.}

Der Tod, der ausnahmslos alle Lebewesen ereilt, ist der Mo­ment des Abschiednehmens von diesem vergänglichen Leben und für jeden Einzelnen sein ihm bestimmter, persönlicher Jüngster Tag. Dabei darf man nicht vergessen, dass der Mensch, unabhängig davon, ob ihm dies bewusst ist oder nicht, jeden Tag und jede Nacht zahllosen Ereignissen begegnet, die seinen Tod bedeuten können. Der Tod des Menschen lauert jeden Augenblick. Der ehrwürdige Maulānā bringt dies in seinem Mathnawī mit den Worten zum Ausdruck:

In Wirklichkeit befindet sich in jedem Moment ein Teil deines Wesens im Zustand des Sterbens.

Jeder Moment ist ein Zeitpunkt des Hingebens der Seele und jeden Moment neigt sich unsere Lebensspanne dem Ende zu.

Nähern wir uns nicht in der Tat mit jedem Tag, den wir uns von unserem Dasein in dieser vergänglichen Welt entfernen, um einen weiteren Schritt dem Tode? Reißen wir nicht mit jedem Tag ein weiteres Blatt vom Kalender unserer Lebensspanne ab? Angesichts des wie ein reißender Fluss dahinfließenden Lebens warnt uns der ehrwürdige Maulānā davor, in Achtlosigkeit zu verfallen, indem er sagt:

O Mensch, schau dir dein letztes Abbild im Spiegel an! Dabei denke daran, wie alle Schönheit mit dem Altern vergeht und dass jedes Gebäude eines Tages einstürzen wird, und lass dich nicht täuschen von der Lüge im Spiegel! 

Unser letzter Atemzug ist ein von tausendundeiner Weisheit umgebenes, wohlgehütetes göttliches Geheimnis. Das heißt, der Zeitpunkt, an dem uns der Tod – das mit der größten Sicherheit bevorstehende Ereignis – ereilen wird, hängt von der göttlichen Bestimmung ab. Dabei blickt der Mensch dem Tod im Verlauf seines Lebens unzählige Male ins Auge. Sind nicht durchlebte Krankheiten, unerwartete Ereignisse, plötzlich hereinbrechende Katastrophen sowie stets und überall lauernde lebensgefährliche Situationen, die der Mensch infolge seiner Achtlosigkeit und Schwäche gar nicht wahrnimmt, allesamt Zeichen dafür, dass nur ein äußerst dünner Schleier den Menschen vom Tode trennt?

Darum sollte der Mensch jeden Tag zahllose Male über die Bedeutung der oben zitierten Verse nachdenken und die ihm in dieser Welt immer wieder gegebenen Möglichkeiten und Chancen nutzen, denn im Jenseits sind diese unwiederbringlich verloren. Doch obwohl der Mensch sich dieser Realität bewusst sein sollte, betrachtet er bedauerlicherweise, gefangen in tausendundeiner Form von Achtlosigkeit, das Herabfallen eines Blattes seines Lebenskalenders nach dem anderen ohne die geringste Anteilnahme. Er verhält sich damit ganz so, als wäre er ein Felsbrocken, an dem die herabfallenden, Leben spendenden Regentropfen abperlen, ohne dass er daraus irgendeinen Nutzen zu ziehen vermöchte.

In Wirklichkeit sterben wir vom Tag unserer Geburt an täglich ein Stück und legen unmerklich Tag für Tag einen Abschnitt der Strecke in Richtung unseres Todes zurück. Wie wir uns jeden Augenblick der Zeit unseres Daseins dem anbrechenden Morgen der Wahrheit nähern, kommt in wunderbarer Weise in dem folgenden Vers des edlen Qur’ān zum Ausdruck:

وَمَنْ نُعَمِّرْهُ نُنَكِّسْهُ فِي الْخَلْقِ أَفَلَا يَعْقِلُونَ

{Und wem Wir ein langes Leben geben, den setzen Wir dem körperlichen Verfall aus. Wollen sie denn nicht nachdenken?}

Zu diesem Vers passen wunderbar die Worte des rechtschaffenen Gottesdieners Quss ibn Sa‘ida, der vor unserem ehrwürdigen Propheten – Allāh segne ihn und schenke ihm Frieden – lebte, dessen baldiges Erscheinen vorhergesagt hatte und in einer Ansprache auf dem Jahrmarkt Sūq ‘Ukāza in Bezug auf die Höhen und Tiefen des vergänglichen irdischen Daseins verkündete:

„O ihr Menschen! Kommt herbei, hört zu, merkt es euch und zieht daraus eine Lehre!

Wer lebt, der wird sterben. Wer stirbt, der wird vergehen. Wenn es regnet, sprießt das Grün.

Kinder werden geboren und nehmen den Platz ihrer Eltern ein. Am Ende vergehen sie alle.

Diese Kette des Geschehens setzt sich in Einem fort, alle folgen denen, die vor ihnen waren.“

Auch wir werden, wenn die uns bestimmte Zahl der Atemzüge, die der Allwahre uns in Seiner Güte geschenkt hat, aufgebraucht ist, an jenem Tag, an dem wir unseren letzten Atemzug tun, nachdem wir Abschied von all dem genommen haben, mit dem wir auf der Erde verbunden waren, oder vielleicht auch ganz ohne Abschied, dem Tod begegnen. Allerdings werden jene Gottesdiener, die Allāh, dem Allwahren, gegenüber wahrhaftig und Ihm in leidenschaftlicher Liebe zugetan sind, diese Begegnung nicht als Tod sondern vielmehr als die einer Hochzeitsnacht gleichende Erweckung zu einem gesegneten neuen Leben erfahren. Aus diesem Grunde ist es notwendig, den Sinn des in den weisen Worten „Sterbt, bevor ihr sterbt!“ verborgenen Geheimnisses zu begreifen. Der ehrwürdige Maulānā Rūmī erklärt dieses Geheimnis, indem er sagt: Sterbt, um zu neuem Leben zu erwachen!

Und der ehrwürdige ‘Alī – möge Allāh mit ihm zufrieden sein – sagte: „Die Menschen sind in tiefem Schlaf versunken, erst wenn sie sterben, wachen sie auf.“

Folglich sollten wir wissen, dass wahres Leben nicht ein entsprechend unserer tierischen Triebseele ganz von den Empfindungen des Egos und dem Verlangen nach weltlichen Dingen bestimmtes Dasein bedeutet, sondern nur in einer dem göttlichen Geist, der uns von Allāh, dem Erhabenen, eingehaucht wurde, gebührenden Existenz verwirklicht werden kann.

Der schlimmste Tod besteht demzufolge darin, Allāh, dem Allwahren, gegenüber achtlos zu sein und die Gelegenheit zu vertun, Sein Wohlgefallen zu erwerben. Darum sollte ein Gläubiger begreifen, wie er zu leben und zu sterben hat und sich der notwendigen Erziehung von der Stufe des Glaubens [īmān] hin zur Stufe der Vorzüglichkeit [ihsān] unterziehen. Denn niemand – abgesehen von den Propheten – kann sich sicher sein, auf welche Art und Weise er sterben und in welchem Zustand er wieder auferweckt werden wird. Da dies der Fall ist, hat die flehentliche Bitte des Propheten Yūsuf – auf ihm sei der Friede – an Allāh, den Erhabenen,

تَوَفَّنِي مُسْلِمًا وَأَلْحِقْنِي بِالصَّالِحِينَ

{Lass mich als Gottergebenen [Muslim] sterben und geselle mich zu den Rechtschaffenen!}

für uns in der Tat eine tiefe Bedeutung. In diesem Zusam-menhang ist es für jeden Gottesdiener dringend erforderlich, in seinem Herzen das rechte Gleichgewicht zwischen Furcht [khauf] und Hoffnung [rajā’] aufrechtzuerhalten. Die durch diesen seelischen Zustand hervorgerufene Wachsamkeit und Empfindsamkeit des Herzens sorgen dafür, dass man sein gesamtes Leben in der bangen Besorgnis verbringt, ob man seinen letzten Atemzug als Gläubiger tun wird oder nicht.

Das erste und deutlichste Anzeichen dafür, wie unser Zustand im Jenseits aussehen wird, offenbart sich in unserem Zustand während des letzten Atemzuges. In unserem Führer auf dem Weg der Rechtleitung, dem edlen Qur’ān, finden wir eine Reihe lehrreicher Beispiele jener heldenhaften Gläubigen, denen bei ihrem Streben nach dem ewigen Seelenheil im letzten Atemzug Erfolg beschieden war, und wir erfahren, welcher göttliche Lohn ihnen dafür zuteil wurde.

So wurden die Zauberer Fir‘auns angesichts des offenkundigen Wunders, welches der ehrwürdige Mūsā vor ihren Augen vollführte, mit der göttlichen Gnadengabe des Glaubens geehrt und warfen sich in Ergebenheit nieder, wobei sie verkündeten {„Wir glauben an den Herrn der Welten, den Herrn Mūsās und Hārūns.“} Der törichte Fir‘aun drohte ihnen überwältigt vom Zorn in dem Irrglauben, er besäße Macht über sie und könne ihr Gewissen mit Zwang beeinflussen: {„Ihr glaubt an Ihn bevor ich es euch erlaubt habe! […] Wahrlich, ich werde euch eure Hände und Füße wechselseitig abhacken, dann werde ich euch alle kreuzigen.“} Doch die Zauberer erwiderten, ganz von den ekstatischen Empfindungen wahren Glaubens erfüllt: „Deine Unterdrückung kann uns keinen Schaden zu­fügen, dein Übel herrscht nur in dieser Welt, doch die Glückseligkeit des Jenseits währt ewiglich!“, und hielten mit der Unerschrockenheit aufrichtigen Glaubens an ihrer Überzeugung fest.

Welch erhabene Lehre bietet diese Geschichte: Selbst mit grausamster Unterdrückung konfrontiert, galt ihre erste Sorge nicht, der Folter zu entkommen, sondern der Frage, ob es ihnen gelingen würde, im letzten Atemzug ohne im Glauben schwach zu werden als wahrhaft Gottergebene (Muslime) ihre Seele hinzugeben, so dass sie Allāh, den Allwahren, um Seinen Beistand anflehten, indem sie sagten:

رَبَّنَا أَفْرِغْ عَلَيْنَا صَبْرًا وَتَوَفَّنَا مُسْلِمِينَ

{„Unser Herr, erfülle uns mit Standhaftigkeit und lass uns als Gottergebene sterben!“}

So gingen sie, nachdem ihnen als Preis für die zuteilgewordene Rechtleitung wechselseitig Arme und Füße abgehackt worden waren, als hochgeehrte Märtyrer und Gottesfreunde in die Gegenwart des Allerhabenen ein.

Auch die grausamen Unterdrücker in der Geschichte der Ashāb al-Ukhdūd betrachteten es als Verbrechen, dass Menschen an Allāh glaubten, und warfen diese in die rotglühenden Flammen mit Feuer gefüllter Gräben. Doch die aufrichtigen Gläubigen gaben ihren Glauben auch angesichts dieser Folter nicht auf und gingen um ihres Glaubens an Allāh willen furchtlos in den Tod. In der Tat empfinden jene, die Allāh wirklich fürchten, keinerlei Furcht vor irgendetwas anderem!

Habīb al-Najjār von den Ashāb al-Qariya wurde wegen seines Glaubens und des Versuches, sein Volk rechtzuleiten, zu Tode gesteinigt. Doch als sich während seines letzten Atemzuges die Vorhänge dieser Welt zuzogen und die Fenster zur jener Welt, in die er eingehen sollte, öffneten und ihm die göttlichen Gnaden, die ihm zuteil werden sollten, gezeigt wurden, empfand er angesichts der Achtlosigkeit seines Volkes nichts als Mitleid und sagte: {Oh, wenn mein Volk doch wüsste!} Denn als Lohn dafür, dass er in dieser vergänglichen Welt klaglos die Steinigung ertrug, wurde ihm die Gnade ewiger Glückseligkeit gewährt.

Und in der Frühzeit des Christentums ließen die Römer, Griechen und Götzenanbeter die Gläubigen jener Tage in Kampfarenen von Löwen zerfleischen. Dabei galt der Kampf jener Gläubigen nicht dem Überleben zwischen den Reißzähnen der Löwen, sondern vielmehr der Bewahrung ihres Glaubens. Denn sie erduldeten diese schreckliche Unterdrückung, weil sie dem erhabenen Lohn Allāhs den Vorzug vor allem anderen gaben.

Zweifellos sind derart hervorragende Zustände das Ergeb-nis eines Lebens, welches ganz von den Empfindungen des Mit-Allāh-Seins geprägt ist. So besteht die höchste Stufe wahrer Gottesdienerschaft und zugleich ein unverzichtbarer Bestandteil derselben in der Fähigkeit, mit Allāh, dem Erhabenen, zu sein.

Wie überliefert ist, sprach einmal ein Prediger auf der Kanzel über die Ereignisse am Tag der Auferstehung. Unter den Anwesenden befand sich auch der ehrwürdige Scheikh Schiblī. Gegen Ende der Ansprache beschrieb der Prediger die Befragung, welcher sich der Verstorbene im Grab von Seiten Allāhs, des Erhabenen, unterziehen muss, wobei er aufzählte: „Es wird gefragt werden, wozu du dein Wissen genutzt hast. Es wird gefragt werden, was du mit deinem Hab und Gut angefangen hast. Du wirst bezüglich deiner Gottesdienste befragt werden. Du wirst gefragt werden, ob du darauf geachtet hast, was nach dem göttlichen Gesetz zulässig [halāl] und verboten [harām] ist. Du wirst nach diesem befragt werden. Und du wirst nach jenem gefragt werden …“, und er zählte eine lange Liste von Dingen auf.

Als er feststellte, dass der Prediger trotz all der vielen Einzelheiten, die er aufgezählt hatte, nicht zum Kern der Angelegenheit vorgedrungen war, unterbrach der ehrwürdige Scheikh Schiblī ihn mit den Worten: „Verehrter Herr Prediger, Allāh, der Erhabene, stellt eigentlich gar nicht so viele Fragen, sondern Er fragt: ‚O Mein Diener, Ich war die ganze Zeit bei dir, doch mit wem warst du zusammen?‘ “

Deshalb besteht die wichtigste Regel darin, mit Allāh, dem Allwahren, zu sein und seine Atemzüge nicht zu verschwenden. Dieser Sachverhalt kommt in folgendem berühmten Aus-spruch in wunderbarer Weise zum Ausdruck:

Verschwendet ist, wie wir jetzt begriffen,

jede Stunde, die wir ohne Dich verbrachten.

In Darlegung dieser Grundregel ergriff der Gesandte Allāhs – Segen und Friede seien auf ihm – einmal ‘Abd Allāh ibn ‘Umar – möge Allāh mit ihnen beiden zufrieden sein – an den Schultern und sagte: „Sei in dieser Welt wie ein Fremder oder ein Durchreisender, der seines Weges zieht!“

Im Bewusstsein dieses Gedankens pflegte Ibn ‘Umar – möge Allāh mit ihnen beiden zufrieden sein – in seinen Zusammenkünften stets zu sagen: „Wenn du den Abend erreicht hast, erwarte nicht, den Morgen zu erleben, und wenn du den Morgen erreicht hast, erwarte nicht, den Abend zu erleben! Sorge in Zeiten der Gesundheit für Zeiten der Krankheit vor und sorge solange du lebst vor für den Tod!“

Diese Worte, welche das Leben in seiner Vergänglichkeit wie einen Platzregen im Sommer erscheinen lassen, können uns dabei helfen, uns dem wahren Leben zuzuwenden. In der Tat brachte Allāhs Gesandter – Segen und Friede seien auf ihm – genau diese Empfindung in einem seiner Bittgebete zum Ausdruck, als er sagte: „O Allāh, das einzig wahre Leben ist das Leben des Jenseits!“

Die Lebensgeschichten der edlen Prophetengefährten, die dieses Geheimnis in bester Weise begriffen, sind voller unzähliger Tugenden, Weisheiten und lehrreicher Beispiele.

Khubayb (ibn ‘Ādī al-Khazrajī) – möge Allāh mit ihm zufrieden sein –, der von den Götzendienern gefangengenommen und im Begriff war, hingerichtet zu werden, hatte vor seinem Märtyrertod nur den einen Wunsch, dem ehrwürdigen Propheten – Allāh segne ihn und schenke ihm Frieden – seine von ganzem Herzen kommenden Friedensgrüße [salām] zu senden. Voller Trauer wandte er seine Augen gen Himmel und bat: „O Allāh, es gibt hier niemanden, der dem Gesandten Allāhs – Segen und Friede seien auf ihm – meine Friedensgrüße überbringen könnte; darum übermittle Du ihm Friedensgrüße von mir!“ Der Prophet – Allāh segne ihn und schenke ihm Frieden –, der sich zu jenem Zeitpunkt in Medina im Kreise seiner Gefährten befand, sagte auf einmal unvermittelt: „Wa ‘alayhi al-Salām!“, was bedeutet „Und auf ihm sei der Friede!“ Die Gefährten fragten überrascht: „O Gesandter Allāhs! Wem hast du mit diesem Gruß geantwortet?“, worauf jener erwiderte: „Dem Friedensgruß eures Bruders Khubayb.“

Darüber hinaus beschrieb unser ehrwürdiger Prophet – Allāh segne ihn und schenke ihm Frieden – Khubayb als „edelsten der Märtyrer“ und sagte über ihn: „Er ist mein Nachbar im Paradies!“

Hier nun einige weitere Beispiele für diese Art hingebungsvoller Liebe und großen Mitgefühls:

Nach der Schlacht von Uhud befahl unser ehrwürdiger Prophet – Allāh segne ihn und schenke ihm Frieden –, nach den als Märtyrer Gefallenen und Verletzten zu schauen. Dabei interessierte er sich ganz besonders für das Schicksal eines Gefährten namens Sa‘d ibn Rabī‘ – möge Allāh mit ihm zufrieden sein – und er schickte einen seiner Gefährten mit dem Auftrag zurück auf das Schlachtfeld, herauszufinden, was mit ihm geschehen war. Doch obwohl dieser das ganze Schlachtfeld sorgfältig absuchte und überall laut nach ihm rief, konnte jener Sa‘d – möge Allāh mit ihm zufrieden sein – nicht finden. Schließlich rief er mit seiner letzten Hoffnung in Richtung der Verletzten und als Märtyrer Gefallenen: „O Sa‘d, der Gesandte Allāhs hat mich geschickt, um herauszufinden, ob du dich unter den Verletzten oder unter den Märtyrern befindest.“ Als Sa‘d – möge Allāh mit ihm zufrieden sein –, der im Begriff war, seinen letzten Atemzug zu tun, hörte, dass der Gesandte Allāhs sich um ihn sorgte, nahm er alle Kräfte zusammen und antwortete mit schwacher, gebrochener Stimme: „Ich bin unter den Gefallenen!“, wobei er offensichtlich schon das Jenseits vor seinen Augen sah. Der Gefährte, der nach ihm gesucht hatte, lief sofort zu ihm hin und fand ihn, von zahllosen Schwerthieben geradezu durchlöchert, schwerverletzt am Boden liegend. Er hörte noch, wie Sa‘d – möge Allāh mit ihm zufrieden sein – mühsam flüsternd die äußerst bedeutsamen Worte sprach: „Ich schwöre bei Allāh, wenn ihr, solange ihr noch die Augenlider bewegen könnt, zulasst, dass unserem ehrwürdigen Propheten ein Leid zugefügt wird, anstatt ihn vor den Feinden zu beschützen, wird es für euch in der Gegenwart Allāhs keinerlei Ausrede geben!“ Diese Worte des Sa‘d ibn Rabī‘ – möge Allāh mit ihm zufrieden sein – waren sein Vermächtnis an die Gemeinschaft des Propheten – Allāh segne ihn und schenke ihm Frieden – und gleichzeitig sein Abschied von dieser vergänglichen Welt.

In diesem Zusammenhang ist auch der folgende, von dem ehrwürdigen Hudhayfa – möge Allāh mit ihm zufrieden sein – überlieferte Bericht von Bedeutung, weil er den erhabenen Charakter und die große Tugendhaftigkeit der Prophetengefährten während ihres letzten Atemzuges widerspiegelt:

„Es war während der Schlacht von Yarmūk. Nachdem der Höhepunkt der Schlacht überschritten und die Kämpfe etwas abgeflaut waren, lag eine Reihe von verletzten Muslimen von Pfeilen oder Lanzenstichen getroffen sterbend im glühendheißen Sand. Ich nahm meine Kräfte zusammen und begann, nach meinem Cousin Hārith zu suchen. Ich lief zwischen den Verwundeten, von denen viele in ihren letzten Atemzügen lagen, umher, bis ich ihn schließlich fand. Er lag in einer gro­ßen Blutlache und konnte schon nicht mehr sprechen. Seine Kräfte reichten gerade noch, um seine Augen zu bewegen. Ich zeigte ihm den ledernen Wasserbehälter, den ich zuvor gefüllt hatte, und fragte ihn: ‚Möchtest du etwas Wasser?‘

Seine Lippen waren von der Hitze völlig ausgetrocknet und er wollte sicher etwas trinken, doch er war nicht in der Lage zu antworten. Nur mit den Bewegungen seiner Augen teilte er mir seinen bedauernswerten Zustand mit. Ich öffnete den Wassersack und wollte ihm gerade etwas Wasser geben, als plötzlich von Ferne, aus der Richtung der Verletzten ‘Ikrimas Stimme zu hören war: ‚Wasser! Wasser! Bitte, einen Tropfen Wasser!‘

Als mein Cousin Hārith diese flehentlichen Rufe hörte, signalisierte er mir mit den Augen, das Wasser sofort ‘Ikrima zu bringen. Ich rannte zu ihm, vorbei an den Märtyrern, die im glühenden Sand lagen. Schließlich erreichte ich ‘Ikrima und wollte ihm gerade die Wasserflasche reichen, als wir auf einmal ‘Iyāsch stöhnen hörten: ‚Bitte gebt mir einen Tropfen Wasser! Um Allāhs willen, einen Tropfen Wasser!‘

Als ‘Ikrima diese flehentlichen Rufe vernahm, deutete er mit einer Handbewegung an, ich solle ‘Iyāsch das Wasser bringen. Genau wie Hārith verzichtete auch er darauf, zu trinken.

Als ich dann ‘Iyāsch zwischen den Toten und Ver­wundeten entdeckte, hörte ich seine letzten Worte: ‚O Allāh! Wir haben uns nicht gescheut, unser Leben für den Glauben zu opfern. Verwehre uns nicht die Stufe des Märtyrertums und vergib uns unsere Fehler!‘ Offensichtlich hatte ‘Iyāsch gerade den Trunk des Märtyrertums getrunken. Er sah zwar noch das Wasser, das ich ihm gebracht hatte, doch er hatte keine Zeit mehr, davon zu trinken. Er konnte gerade noch die Worte des Glaubensbekenntnisses aussprechen, dann verschied er.

Ich lief zurück zu ‘Ikrima, doch als ich ihm die Wasserflasche hinhielt, stellte ich fest, dass auch er zum Märtyrer geworden war. Ich rannte, so schnell ich konnte, zu meinem Cousin Hārith, doch alle Mühen waren vergebens, denn ich musste erkennen, dass auch er auf dem glühendheißen Sand seine Seele ihrem Schöpfer hingegeben hatte. So blieb traurigerweise der Wassersack auf dem Wege zwischen drei Märtyrern voll, ohne dass einer von ihnen davon getrunken hätte.“

Hudhayfa – möge Allāh mit ihm zufrieden sein – beschrieb seinen seelischen Zustand in jenem Moment mit den Worten: „Ich habe in meinem Leben viele bedeutsame Ereignisse erlebt, doch nichts hat mich derart berührt und inspiriert wie dieser Vorfall. Denn obwohl jene Männer nicht miteinander verwandt waren, zeigten sie ein jeder für den anderen ein solches Maß an Mitgefühl, Opferbereitschaft und Barmherzigkeit, dass dieses Erlebnis mich mit großer Bewunderung für sie alle erfüllt und in meinem Gedächtnis einen unauslöschlichen Eindruck hinterlassen hat.“

Möge Allāh, der Allwahre, uns allen in unserem letzten Atemzug ein gutes Ende bescheren! Möge Er unseren letzten Atemzug in dieser vergänglichen Welt zum ersten Atemzug in der Ewigkeit Seiner göttlichen Gegenwart werden lassen!

      Āmīn!


Was Den Menschen Zum Menschen Macht: Die Göttlich

Allāh, der Erhabene, hat Himmel und Erde erschaffen, auf dass sie den Menschen zu Diensten seien. Zugleich hat Er sie jedoch sowohl in Hinblick auf ihre Umgebung als auch, was die Verantwortung vor ihrem Schöpfer anbelangt, keineswegs sich selbst überlassen. Genauer gesagt hat Allāh, der Erhabene, sowohl das Universum als auch die Menschheit bestimmten göttlichen Gesetzmäßigkeiten unterworfen und dabei in dieser Welt der Prüfungen ein fein abgestimmtes Gleichgewicht zwischen Freiheit und Verantwortung festgelegt, wie in dem folgenden Vers zum Ausdruck kommt: {Er hat den Himmel hoch aufgerichtet und die Waage aufgestellt, auf dass ihr das Maß nicht überschreitet.} Das bedeutet, dass es die Aufgabe der Menschen ist, sich in harmonischer Weise in die gesamte Schöpfung einzuordnen. Genau so, wie in diesem gewaltigen Universum nicht das geringste Ungleichgewicht zu verzeichnen ist, sollte auch der Mensch auf dem Weg zum Wohlgefallen seines allmächtigen Schöpfers keinerlei Abweichungen vom geraden Kurs zulassen. Nur jene, denen es gelingt, dieses Gleichgewicht im Verlauf ihres Lebens aufrecht zu erhalten, werden wahre Erkenntnis und das höchste Glück in beiden Welten erlangen. Jene hingegen, die ein Leben in ständigem Ungleichgewicht führen, indem sie fortwährend ihren vergänglichen Begierden und kurzlebigen Vergnügungen nachlaufen, bleiben in Unwissenheit gefangen und die Geheimnisse ihres Kommens und Gehens in dieser Welt bleiben ihnen verschlossen. Sie sind unfähig, sich in die göttliche Harmonie, die sich im gesamten Universum widerspiegelt, einzufügen, geschweige denn, diese zu begreifen. Welch eine Schande ist es, wie sie ihr ganzes Leben gefangen in den Strudeln der Achtlosigkeit und Verirrung verschwenden, woraufhin sie im Jenseits noch weit größerer Verlust erwartet.

Des Rätsels Lösung liegt in der Wirklichkeit des Menschen selbst verborgen. Denn es ist eine Tatsache, dass der Mensch, da er zur Prüfung in diese Welt gesandt wurde, mit der Fähigkeit, sowohl Gutes als auch Schlechtes zu tun, erschaffen wurde, weil eine Prüfung logischerweise voraussetzt, dass eine Wahl zwischen zwei Möglichkeiten gegeben sein muss.

Demzufolge besteht das menschliche Leben sowohl innerlich als auch äußerlich aus einer beständigen Auseinandersetzung zwischen Gut und Böse. Beide versuchen, Herrschaft über das Wesen des Menschen zu erlangen. Genau so, wie ihm die Kraft des Guten innewohnt, besitzt er, wenn sein Ego keiner Erziehung unterzogen wird, eine ebenso starke, ungebändigte Kraft, Schlechtes zu tun. Die Kräfte des Verstandes, der Erkenntnisfähigkeit und des Willens allein sind nicht ausreichend, um dem Guten in dieser ununterbrochenen Schlacht zum Sieg über das Schlechte zu verhelfen. Denn wären sie allein genug, hätte Allāh, der Allmächtige, nicht Ādam, den ersten Menschen, mit der Gabe des Prophetentums ausgestattet und ihm jene göttlichen Wirklichkeiten offenbart, die dem Menschen das Glück in beiden Welten zuteil werden lassen. Doch Allāh, der Erhabene, hat die Menschheit stets durch Seine Offenbarungen mit Hilfe Seiner Propheten auf den Weg der Wahrheit geleitet. Indem er sie durch die Offenbarung Seiner Heiligen Schriften stärkte, unterzog Er sowohl ihren Verstand als auch ihre Herzen einer spirituellen Erziehung.

Der Verstand gleicht einem zweischneidigen Schwert, mit dessen Hilfe man sowohl Verbrechen begehen als auch tugendhafte Taten verrichten kann. In der Tat ist die als ahsanu taqwīm bekannte Stufe, das heißt die „vorzüglichste Gestalt“ des Men­schen, nicht ohne Benutzung des Verstandes zu erreichen, doch häufiger noch stürzt dieser den Menschen auf die mit den Worten bal hum adall [„doch sie sind noch irregeleiteter“] beschriebene Stufe hinab, die selbst unterhalb der Bewusstseinsstufe der Tiere liegt. Aus diesem Grund ist es notwendig, dass der Mensch sein Denken einer Disziplin in Form von Anleitung durch die göttliche Offenbarung und die Lehren der Propheten unterwirft. Wenn der Mensch sein Denken von der göttlichen Offenbarung leiten lässt, kann der Verstand ihn ans sichere Ufer retten, wenn nicht, findet er in den Wogen der Irreleitung ein tragisches Ende. Aus diesem Grund braucht der Verstand Führung durch den göttlichen Willen Allāhs.

Die Menschheitsgeschichte hat zahllose Tyrannen hervorgebracht, die über ausgezeichnete Intelligenz verfügten und dennoch ohne die geringsten Gewissensbisse die schrecklichsten Massaker angerichtet haben. Dabei rechtfertigten sie ihre Grausamkeiten als das logischste und vernünftigste Verhalten. Der mongolische Eroberer Hulagu zum Beispiel ertränkte im Verlauf seiner Eroberung Bagdads 400.000 unschuldige Menschen im Tigris, ohne dass ihn dabei ein schlechtes Gewissen geplagt hätte, während die Bewohner Mekkas in der vor­islamischen Zeit der Unwissenheit ihre unerwünschten neugeborenen Töchter unter dem stummen Wehklagen ihrer Mütter bei lebendigem Leibe zu begraben pflegten; und einen ihrer Sklaven umzubringen war für sie eine absolut legitime Handlung, vergleichbar dem Fällen eines Baumes.

Diese Menschen besaßen allesamt Verstand und Gefühle. Doch gleich einem Zahnrad, das verkehrt herum läuft, leiteten diese Fähigkeiten sie nicht in die eigentlich vorgesehene Richtung.

All dies zeigt, dass Menschen Geschöpfe sind, die ein angeborenes, natürliches Bedürfnis nach Führung und Rechtleitung besitzen, weil sie sowohl positive als auch negative Züge in sich tragen. Die Führung, die dem Menschen zuteil wird, muss wiederum mit der ihm innewohnenden, gottgegebenen Veranlagung im Einklang stehen, und dies ist nur durch eine Erziehung im Sinne der göttlichen Offenbarung, das heißt durch die Verkündigung und Rechtleitung der Propheten, möglich. Eine Erziehung, die im Gegensatz zu dieser natürlichen Veranlagung des Menschen steht, wird hingegen nur Schaden anrichten und zu allen möglichen Formen von Schlechtigkeit und Übel führen.

Ein prägender Charakterzug in einem Menschen – welcher auch immer das sein mag – bedingt zugleich die Abwesenheit seines Gegenteils. Wenn das Gute dominiert, kann das Schlechte sich nicht entfalten. Wenn dagegen dem Schlechten die Oberhand gelassen wird, versucht es, alles Gute zu ersticken. Der Widerstreit im Inneren des Menschen dauert ein Leben lang. Darum hat Allāh in Seiner Gnade der Menschheit Seine Propheten und vertrauten Gottesfreunde zur Rechtleitung und Erziehung gesandt. Nur jene, die unter deren geschickten, die rechte Eingebung vermittelnden und gesegneten Händen heranwachsen, sind fähig, die Gärten der Schönheit in ihrem Inneren erblühen zu lassen. Bei ihnen verwandeln sich die winterlich frostigen Landschaften negativer Charakterzüge in herrlich duftende, frühlingshafte Rosengärten. Auf diese Weise wurden aus jenen wilden Menschen des Jāhiliyya genannten Zeitalters der vor­islamischen Unwissenheit, die zuvor ihre Töchter bei lebendigem Leibe begraben hatten, durch die Rechtleitung unseres ehrwürdigen Propheten  die vortrefflichsten Persönlichkeiten der gesamten Menschheitsgeschichte.

In der Tat wird denen, die sich aufrichtig an die Rechtleitung der Propheten halten, die würdige Rangstufe lobenswerter Gottesdiener zuteil, die Allāh, dem Erhabenen, wohlgefällig sind. Hingegen sind jene, die sich dieser Rechtleitung verweigern, in der göttlichen Prüfung, in welcher das Ego der Seele im Kampf gegenübersteht, zum Scheitern und zum Absturz in die tiefsten Abgründe verurteilt. Tatsächlich wurde den Menschenkindern das irdische Leben deswegen auferlegt, um herauszufinden, für welchen der beiden Wege sie sich entscheiden würden. Der Mensch steuert entsprechend seiner inneren Neigungen mithilfe seines Willens in eine der beiden Richtungen; wobei die Richtung vom Ergebnis des Widerstreits zwischen seinem Ego und seiner Seele abhängt. Doch während dieser innere Kampf tobt, ist er vielerlei Einflüssen ausgesetzt.

Ein Spaziergang durch einen Rosengarten lässt einen mit dem wunderbaren Duft der Rosen zurück, während ein Aufenthalt auf der Müllhalde mit Sicherheit auch nicht ohne Spuren bleiben wird. Derartige äußere Einflüsse sind leicht erkennbar. Deshalb ist der Mensch unter allen Geschöpfen dasjenige, welches am meisten der Rechtleitung, der Erziehung und Läuterung seines Wesens bedarf.

Das Hinabstürzen eines Menschen in die Abgründe der Verwerflichkeit ist zumeist eine Folge der Erfahrung scheinbar unlösbarer innerer und äußerer Konflikte. Ursache dieser Konflikte ist vor allem die Tatsache, dass der Mensch in seinem Innern sowohl die höchsten Tugenden, welche es ihm ermöglichen, vertraute Nähe zu seinem Schöpfer zu erlangen, als auch die verabscheuenswürdigsten bestialischen Wesenszüge vereint.

Infolge dessen gleicht die innere Welt derjenigen, denen nicht jene prophetische Erziehung zuteil geworden ist und deren Herzen noch keinen Frieden gefunden haben, einem Dschungel, der von den verschiedensten Arten wilder Tiere durchstreift wird.

Versteckt unter ihren verschiedenen Temperamenten tragen sie bestimmte tierische Charaktereigenschaften in sich. Manche sind schlau wie Füchse, andere blutrünstig wie Hyänen, während wieder andere Ameisen gleichen, die riesige Haufen auftürmen, oder giftigen Schlangen ähneln. Manche umgarnen ihre Opfer mit Liebkosungen, bevor sie zubeißen, während andere Blut saugen wie die Egel; und wieder andere verbergen ihr verräterisches Wesen hinter einem freundlichen Lächeln. All dies sind ganz spezielle Eigenschaften bestimmter Tiere.

Ein Mensch, der sich nicht durch eine spirituelle Erziehung von der Herrschaft seines Egos befreien kann, um einen aufrechten Charakter zu erwerben, ist ganz und gar dem fortwährend auf ihn eindrängenden Einfluss dieser erbärmlichen Eigenschaften ausgeliefert. Manche Persönlichkeit wird von den Eigenschaften eines einzigen Tieres bestimmt, während andere von einer Kombination mehrerer animalischer Attribute dominiert werden. Darüber hinaus ist es – da sich das innere Wesen eines Menschen in seinem Äußeren widerspiegelt – für jene, die dazu befähigt sind, keine Schwierigkeit, ihre verborgenen Charakterzüge zu erkennen. Ihr Verhalten gleicht einem Spiegel, welcher ohne zu lügen ihre innere Welt reflektiert.

Ist nicht der Kommunismus, ein System welches seine Herrschaft auf den Skeletten von über 20.000 Opfern errichtete, das Spiegelbild eines wilden, grausamen Herzens? Sind nicht die Pyramiden – Friedhöfe für Zigtausende nur um eines Pharaos willen – grauenhafte Zeugnisse brutaler Unterdrückung? Für viele Achtlose sind sie noch immer Meisterwerke der Geschichte, die dem Verstand ihrer Betrachter Ehrfurcht abnötigen. Doch, aus dem Blickwinkel der Wahrheit und der Wirklichkeit betrachtet, sind dies nicht eigentlich schockierende Abbilder höchster Grausamkeit, bösartig genug, die blutrünstigste Hyäne in Angst und Schrecken zu versetzen?

Eine Folge der oben beschriebenen Zusammenhänge ist, dass sich in einer Umgebung, in der die Frösche das Sagen haben, alles in einen Sumpf verwandelt, während unter der Dominanz von Charakteren, die Schlangen oder Skorpionen ähneln, die ganze Gesellschaft deren Terror und Anarchie verbreitendem Gift ausgesetzt ist. Wenn hingegen Charaktere, welche Rosen gleichen, das Geschehen bestimmen, verwandelt sich das ganze Land in einen Rosengarten, dessen Bewohner in innerem und äußerem Frieden versöhnt zusammenleben.

Aus diesen Gründen ist eine Erziehung gemäß den Lehren der göttlichen Offenbarung unerlässlich. Jene, denen diese Erziehung nicht zuteil wurde, tragen stets – selbst wenn sie nach außen hin keinerlei Anzeichen ungezügelter Aggressivität erkennen lassen, sondern sich recht gesittet verhalten – einen latenten Hang zu bestialischem Verhalten in sich; denn jede Art von Tugendhaftigkeit, die nicht auf göttlicher Erziehung beruht, kann nicht von Dauer sein. In schwierigen Zeiten oder extremen Situationen, in denen die Triebkräfte des Egos freigesetzt werden, treten die Aggressivität und das Potential Schlechtes zu tun in jenen, die sich nicht dieser erhabenen Ausbildung unterzogen haben, offen zutage. Ein ungezügeltes Ego gleicht einer Katze, die Appetit auf Mäuse hat. Diese Katze wird, sobald eine Maus in ihrer Nähe auftaucht, ohne zu zögern das vor ihr stehende vorzügliche Futter stehen lassen, um der Maus nachzujagen. Der Mensch verhält sich – wenn er nicht eine Erziehung entsprechend den Maßstäben der göttlichen Offenbarung genossen hat – genau wie diese Katze: So sehr sein Herz auch die zahllosen Schönheiten, die ihm zuteil geworden sind, wertschätzen mag, wird die Katze seines Egos, sobald auch nur in der Ferne eine Maus auftaucht, sein Herz augenblicklich zwingen, dieser nachzujagen, selbst wenn dies seinen Untergang bedeuten sollte. Die Lebensläufe des Fir‘aun [Pharao] oder des Nimrod, geprägt von den Schreckensbildern grausamster Unterdrückung und kaltblütiger Massaker, sind im Grunde nichts anderes als die Geschichten ihrer „Jagd nach Mäusen“.

Wie weit entfernt ist dies von jener göttlichen Erziehung, die nicht nur das Töten unschuldiger Menschen kategorisch verbietet, sondern darüber hinaus größte Sensibilität im Umgang mit den Rechten anderer sowie absolutes Vermeiden jeder noch so kleinen Verletzung dieser Rechte verlangt. Der ehrwürdige Gesandte Allāhs vermied es, auch nur einen grünen Zweig abzubrechen. Auf dem Weg zur Einnahme Mekkas befahl er seinem Heer, ein wenig von der direkten Marschroute abzuweichen, um einer Hündin, die am Wegesrand ihre Jungen stillte, keinen Schrecken einzujagen. Und als er einen brennenden Ameisenhaufen sah, fragte der ehrwürdige Prophet voller Entsetzen: „Wer hat dieses Ameisennest angezündet?“

Ganz und gar durchdrungen vom Geiste des ehrwürdigen Propheten und geformt von seinem allumfassenden Mitgefühl, gründeten die Osmanen zahlreiche wohltätige Stiftungen [waqf, pl.: auqāf], welche einen Höhepunkt der Barmherzigkeit im Dienste der Geschöpfe Allāhs einschließlich der Tiere verkörperten. In der Tat existierten Stiftungen, deren einziger Stiftungszweck darin bestand, Tiere zu versorgen oder zu ernähren. Es sollte uns deshalb nicht wundern, wenn wir in manchen Reiseberichten aus jener Zeit lesen, dass Hunde und Katzen in den muslimischen Stadtvierteln stets die Gegenwart der Menschen suchten, während sie sich in den anderen Stadtteilen verborgen hielten und versteckten, sobald ein Mensch auf­tauchte.

All dies sind Manifestationen der unterschiedlichen Stufen von Erziehung, die ein Mensch genossen oder eben nicht genossen hat. Der Mensch ist ein Wesen, das soviel Blut vergießt, dass es ausreicht, um das Land zu bewässern, doch der Mensch kann auch derjenige sein, der von seinem eigenen Blut spendet, um einen anderen zu retten, der dessen bedarf.

In dieser Welt leben – aufgrund göttlicher Weisheit – Menschen mit negativen und positiven Charaktereigenschaften Seite an Seite nebeneinander. Dieser Zustand entspricht, um einen treffenden Vergleich zu bemühen, dem erzwungenen Zusammenleben eines lieblichen Rehkitzes in einem Stall mit wilden Raubtieren. Nicht selten lebt ein Geizhals direkt neben einem freigiebigen Wohltäter, ein Ignorant Seite an Seite mit einem Weisen oder ein mitfühlender, barmherziger Mensch neben einem gewissenlosen Unterdrücker. Geizhälse sind unbarmherzig, feige und nicht bereit dazu, anderen einen Dienst zu erweisen. Ein Ignorant ist vollkommen unfähig, einen Weisen zu verstehen; und der Tyrann bildet sich ein, gerecht zu sein, während er ständig seine Macht missbraucht. Kurz gesagt leben in dieser Welt Menschen mit engelsgleichen Seelen direkt neben blutrünstigen Hyänen. Während die einen bemüht sind, die Wahrheit des Göttlichen zu erkennen, zu rechtschaffenen Gottesdienern zu werden und Allāhs Weg zu gehen, meinen die anderen, die in ihrer Verblendung ganz ihren tierischen Instinkten folgen, das Glück bestehe einzig und allein darin, zu essen, sich zu paaren, gesellschaftliches Ansehen zu erringen sowie weitere ähnliche Wünsche und Begierden zu befrie­digen.

In einer solchen Welt voller gegensätzlicher Charaktere zu leben ist für den Menschen eine schwere Prüfung, doch wir müssen uns dieser Prüfung stellen und sie bestehen. Denn die Prüfung in dieser Welt zu bestehen und zu unserem erhabenen Herr zurückzukehren ist der eigentliche Daseinszweck des Menschen. Um diese Prüfung zu bestehen, müssen schlechte Charakterzüge aufgegeben und zugleich lobenswerte Cha­rak­tereigenschaften kultiviert werden, so dass es uns gelingt, ein ehrbares und würdevolles Leben zu führen, wie es sich für ein menschliches Wesen geziemt.

Wenngleich die Seele des Menschen himmlischen Ursprungs ist, ist sein Körper doch aus Erde erschaffen. Während die Seele schließlich zu Allāh, dem Erhabenen, zurückkehrt, wird der Körper wieder zu Erde. In physischer Hinsicht trägt der Mensch viele Eigenschaften anderer Lebewesen in sich. Genau dies ist der Grund, weshalb das Ego mithilfe einer spirituellen Erziehung diszipliniert und geläutert werden muss, um so die Seele zu stärken. Andernfalls ist man nicht davor gefeit, in der äußeren Welt den teuflischen Kräften Schaytāns und innerlich den ungezügelten Begierden des Egos zum Opfer zu fallen, wodurch die Seele mehr und mehr geschwächt wird. Im Heiligen Qur’ān heißt es: {Bei dem Selbst, und Dem, der ihm seine Gestalt verliehen und ihm dann Sittenlosigkeit oder Gottesfurcht eingegeben hat; erfolgreich wird gewiss der sein, der es läutert, und verloren ist gewiss derjenige, der es verkom­men lässt.}

Der ehrwürdige Meister Jalāl al-Dīn Rūmī erklärt die in diesen Versen beschriebenen, in der inneren Welt des Menschen widerstreitenden Kräfte des Frevels und der Gottesfurcht in folgendem Gleichnis:

O Reisender auf dem Weg zu dem Allwahren, wenn du wissen willst, was die Wahr­heit ist, dann wisse: Weder Mūsā noch Fir‘aun sind tot. Sie beide leben in dir, sie sind in deiner Existenz verborgen und setzen ihren Kampf in deinem Innern fort. Darum suche nach ihnen in dir selbst!

Und Maulānā Rūmī fährt fort:

Gib deinem Körper nicht zuviel an Nahrung, denn er wird am Ende doch der Erde geopfert! Versuche stattdessen, deiner Seele Nahrung zu geben, denn sie ist es, die in den Himmel aufsteigen und der die höchste Ehre zuteil werden wird!

Gib deinem Körper nur kleine Bissen fettiger süßer Nahrung, denn wer ihm zu­viel davon gibt, wird zum Sklaven seines Egos und nimmt ein böses Ende! Gib deiner Seele geistige Nahrung, reife Gedanken, feines Verstehen und spirituelle Ernährung, sodass sie, ausgerüstet mit Stärke und Kraft, zu dem ihr bestimmten Ort gelangen kann!

Ein Ego ohne charakterbildende Erziehung ist wie ein Baum mit verfaulten Wurzeln, bei dem die Anzeichen der Fäulnis an Zweigen, Blättern und Früchten erkennbar sind. Wenn im Herzen eine Krankheit wohnt, tritt diese durch die Handlungen des Körpers in Erscheinung und der Schaden, den sie anrichtet, wird sichtbar. Zu den Symptomen solcher Krankheiten, die dringender Behandlung bedürfen, gehören Arglist, Neid, Hochmut und viele ähnliche Eigenschaften des Egos. Das Kurieren dieser negativen Eigenschaften setzt als Erstes eine Orientierung hin zu dem von Allāh gewünschten und aufgezeigten Weg voraus.

Um eine Persönlichkeit zu entwickeln, die Allāh, dem Erhabenen, wohlgefällig ist, bedarf es zweier grundlegender Neigungen, nämlich der Bereitschaft, „sich ein Beispiel zu nehmen“, sowie der Tendenz des Menschen, nachzuahmen.

Die natürliche Neigung des Menschen, sich ein Beispiel zu nehmen und nachzuahmen

Praktisch vom Augenblick seiner Geburt an benötigt der Mensch ein Vorbild. Sämtliche Ideen, Überzeugungen und Verhaltensweisen, die das Leben eines Menschen prägen, wie Sprache, innere Werte oder Charaktereigenschaften, werden durch Vorbilder in seiner Umgebung und die von diesen vermittelten Eindrücke bestimmt. Dies ist, von einigen, wenigen Ausnahmen abgesehen, die Norm. Ein Kind lernt zum Beispiel zuerst die Sprache seiner Eltern; das anschließende Erlernen einer zweiten, dritten oder vierten Sprache bedarf weiterer Vorbilder. So besteht die Erziehung eines Menschen – abgesehen von einigen sekundären Faktoren – vorwiegend in nichts anderem, als ihn, entsprechend seiner angeborenen Neigung zur Nachahmung, das, was die Vorbilder in seiner Umwelt ihm sowohl an positiven wie an negativen Inhalten anbieten, nachahmen zu lassen. Auf diese Weise entwickelt sich ein Mensch infolge der Nachahmung seiner Eltern, Familienangehörigen und anderer Menschen in seiner Umgebung entweder zu einem guten oder zu einem schlechten Mitglied der menschlichen Gesellschaft.

Während jedoch das Erlernen einer Sprache und ähnlicher äußerer Fähigkeiten im Allgemeinen relativ problemlos ist, treten bei der Formung der religiösen, moralischen und spirituellen Innenwelt des Menschen häufig große und schwerwiegende Hindernisse auf. Denn die auf den Menschen entsprechend dem göttlichen Willen zum Zwecke der Prüfung einwirkenden Kräfte, wie Schaytān und sein Ego, sind ohne Unterlass bemüht, ihn von der Nachahmung all dessen, was gut und vorzüglich ist, abzuhalten. Wenn also in diesen Bereichen keine Erziehung entsprechend dem gottgegebenen Weg der Propheten und der rechtschaffenen Gottesfreunde stattfindet, wird der Mensch unfähig, sich vor diesen zerstörerischen Kräften, welche ihn in die Abgründe der Achtlosigkeit, Irreleitung und Rebellion stürzen wollen, zu retten, so dass er sein Potential, ewige Glückseligkeit zu erlangen, verliert und stattdessen einem leidvollen Untergang entgegensieht.

Der Zustand jener, die sich gewisse Prominente oder Stars, die selbst in den Sümpfen der verschiedensten Arten übertriebener Genüsse versinken, zu Vorbildern erküren und diesen – sehr zu ihrem eigenen Schaden im Diesseits wie im Jenseits – nachzueifern versuchen, bedeutet eine rücksichtslose Verschwendung menschlichen Potentials und ist zugleich ein unübersehbares Zeichen des Bankrotts der Zivilisation. Dabei wird das Herz in schändlicher Weise zu Grunde gerichtet, indem auf seinem erhabenen Thron, der vollkommen verwaist leer steht, absolut ungeeignete Schranzen platziert werden, nur um diesen überhaupt mit irgend etwas zu besetzen.

Indem er die Tricks des menschlichen Egos in konkreten Beispielen beschreibt, illustriert Maulānā Rūmī in den folgenden Zeilen, auf welch sonderbare Weise sich der Mensch betrügen lässt:

Es verwundert nicht, dass ein Lamm vor einem Wolf flieht, denn der Wolf ist ein Feind des Lammes und sein Jäger. Wenn sich jedoch ein Lamm in einen Wolf verliebt, sollte dies sicher Anlass zur Verwunderung geben.

Manch ein Fisch, der in sicheren Gewässern schwimmt, wird, vom Angelhaken erwischt, zum Opfer seiner eigenen Gier nach Futter.

Aus diesem Grund benötigen die Menschen jene mit empfindsamen Seelen und einfühlsamen, mitfühlenden Herzen ausgestatteten Führer, die sie mit Weisheit vor den Fallstricken ihrer eigenen Egos bewahren und sie rechtleiten.

Die vorbildlichen Persönlichkeiten der Propheten

Da Zuneigung und Bewunderung für einen Menschen, ebenso wie das Bemühen seine Charakterzüge nachzuahmen, einer natürlichen Neigung entspringen, ist es von entscheidender Bedeutung, möglichst vollkommene Vorbilder zu finden, um diesen dann nachzufolgen.

Aus eben diesem Grund hat Allāh, der Erhabene, in seiner grenzenlosen Freigiebigkeit der Menschheit nicht nur heilige, offenbarte Schriften zukommen lassen, sondern ihr darüber hinaus, als lebendige Verkörperung dieser Bücher, Seine mit zahllosen höchst vortrefflichen Eigenschaften ausgestatteten Propheten gesandt.

Diese Propheten sind derart vorbildliche Persönlichkeiten, dass sie in jeder Hinsicht die höchste Vollendung sowohl in der Religion als auch im Wissen und in ihren Charaktereigenschaften repräsentieren. Im Laufe ihrer langen Geschichte hat jeder dieser Propheten der Menschheit durch sein exzellentes beispielhaftes Verhalten wahrhaft unschätzbare Dienste erwiesen.

Was nun die Gottesfreunde, die wahren, rechtmäßigen Erben der Propheten, anbelangt, so sind sie jene mit Gottes-erkenntnis ausgestatteten, rechtschaffenen und vollendeten Gläubigen, die

 – in vollkommener Weise die inneren und äußeren Aspekte der Religion vereint im Wesen ihrer Persönlichkeit eingraviert,

– durch Weltentsagung und Gottesfurcht auf dem Weg des Herzens weite Strecken zur Perfektion zurückgelegt

– sowie eine die Horizonte des Diesseits und des Jenseits umspannende Tiefe der Empfindungen und Innigkeit aufrichtigen Glaubens verwirklicht haben

– und deren ganzes Streben darauf ausgerichtet ist, die Menschheit von den üblen Eigenschaften und finsteren Abgründen des Egos zu befreien, und sie empor, zu den Himmeln spiritueller Vollkommenheit edlen Charakters, zu führen.

Diese rechtschaffenen Gottesfreunde stellen über die Zeitalter hinweg die von verschiedenen Propheten ausgebildeten, höchsten Gipfel vollkommenen menschlichen Handelns dar – überragende Persönlichkeiten, denen zu folgen all jenen obliegt, denen nicht das Glück vergönnt war, persönlich einem der Propheten zu begegnen. Sie artikulieren in einer die Herzen von Neuem belebenden Sprache der Barmherzigkeit jene prophetischen Lehren und Ratschläge, die in ihrer Essenz Tropfen vom Quell der Spiritualität des Prophetentums sind.

Wo auch immer in dieser Welt unter den Menschen Gerechtigkeit herrscht, wo ein Band der Barmherzigkeit und des Mitgefühls sie miteinander verbindet, wo die Reichen den Armen beistehen und sie unterstützen, wo die Starken die Schwachen beschützen, wo die Gesunden den Kranken helfen und die Wohlhabenden die Hilflosen und Waisen versorgen, da sind all diese Tugenden ohne den Hauch eines Zweifels auf das Wirken der Propheten und jener, die ihrem Weg folgen, zurückzuführen.

Die Familie der Menschheit, die ihren Anfang mit dem ehrwürdigen Propheten Ādam und seiner Ehefrau Hawwa nahm – möge Allāh ihnen beiden Frieden schenken – wählte sich, während sie in Glück und Zufriedenheit ihre Religion lebte, den Ort Mekka, an dem heute die Ka‘ba steht, als erste Gebetsstätte aus. Die folgenden Kinder Ādams verteilten sich infolge natürlicher und sozialer Gegebenheiten über die gesamte Welt und lebten, angeleitet von den Propheten, die von Zeit zu Zeit gesandt wurden, ihr Leben entsprechend der Religion.

Jedes Mal, wenn die göttliche Wahrheit von Verfälschern der Religion oder von Unwissenden mit Unwahrheit vermischt und entstellt wurde, entsandte Allāh, der Erhabene, Propheten, durch die Er diese Verfälschungen rückgängig machte und die Religion von Neuem belebte. Immer wieder wurde die Menschheit in ihrer Geschichte auf diese Weise durch die Gnade Allāhs vor individuellen und gesellschaftlichen Krisen bewahrt, bis sie schließlich die Endzeit erreichte.

Schließlich – zu einem Zeitpunkt, der, wenn man das Zeitalter dieser Welt mit einem Tag vergleicht, der Zeit des Nachmittagsgebets [‘Asr] entspräche – brach das als ‘Asr al-Sa‘āda bezeichnete Goldene Zeitalter der Glückseligkeit an, in welchem genau an jenem Ort, an dem das religiöse Leben einst begonnen hatte, das vollkommenste aller Vorbilder, der ehrwürdige Prophet Muhammad al-Mustafā den Nachfahren Ādams ein letztes Mal die göttliche Wahrheit überbrachte und darlegte. Eine Vollkommenheit, die diesen höchsten Gipfel der Vollkommenheit des Propheten Muhammad überträfe, ist absolut unvorstellbar, denn durch ihn ging die beständige Wiederbelebung der Religion durch die Entsendung der Propheten zu Ende und der Islam (in seiner vom Siegel der Propheten verkündeten Form) wurde von Allāh, dem Erhabenen, zu der Ihm wohlgefälligen Religion bestimmt.

So können wir sagen, dass Allāhs ehrwürdiger Gesandter, der sein ganzes Leben lang bei zahllosen Gelegenheiten die höchsten Tugenden verwirklichte und vorlebte, das perfekteste und der natürlichen Neigung des Menschen zur Nachahmung am vollkommensten entsprechende Beispiel verkörpert. Wie weit das Bemühen, ihm nachzueifern, von Erfolg gekrönt ist, hängt zweifellos vom Grad unserer Bewunderung für seinen edlen Charakter und seine Persönlichkeit sowie vom Ausmaß und der Aufrichtigkeit unserer Liebe zu ihm selbst ab.


Wie Man Fromme Ehrerbietung Im Gebet Erreicht

Der Meister Hâtim al-Asam empfiehlt, die folgenden Dinge zu beachten, um den Anforderungen des Gebetes wahrhaft gerecht zu werden:

 

„Bereite dich für das Gebet in bester Weise vor. Dann stelle die Ka´ba vor deine  Augen und  die Brücke (Sirât), die ins Paradies  führt, unter deine Füße, das Paradies zu deiner Rechten und die Hölle zu deiner Linken! Tritt ein in die Gegenwart Allahs voller Furcht und Hoffnung, mit dem Todesengel Azra’îl hinter dir, der darauf wartet, dein Leben zu nehmen, in dem Bewußtsein, daß dies dein letztes Gebet in dieser Welt ist! Beginne dein Gebet, indem du bewußt ‚Allahu akbar!’ sagst! Beginne mit der Rezitation der Qur’ânverse langsam und indem du über ihre Bedeutung nachdenkst! Laß’ deine Seele sich in Ehrerbietung verneigen und in Demut niederwerfen. Laß’ deinen Körper den äußeren Be-stimmungen des Gebets folgen, doch laß’ deine Seele stets in der Position der Niederwerfung bleiben und laß’ nicht zu, daß diese Einheit auch nur für einen Atemzug unterbrochen wird ...“

 

Imâm al-Ghazâlî betont die Bedeutung der Empfindungen der Liebe zum Gesandten Allahs – Segen und Friede seien auf ihm – während der sitzenden Position beim Sprechen der Grußformeln (Tahhiyyât) und gibt dafür ein Beispiel. Im Gebet ist es notwendig, daß das Herz ständig in Frieden ist, wie uns die folgende Empfehlung Imâm al-Ghazâlîs zeigt:

 

„Während der ersten und während der abschließenden Sitzposition soll man sich, während man sagt: ‚der Segen und der Friede seien auf dir, o Prophet, und die Barmherzigkeit Allahs!’, die Gegenwart des Propheten – Allah segne ihn und schenke ihm Frieden – zwischen den Augen des Herzens vorstellen....“

 

Welch gewaltige Auszeichnung und erhabene Würdigung liegen in diesen Worten, mit denen Allah Seinen Geliebten – Segen und Friede seien auf ihm – während seiner Himmelsreise (Mi´râj) an der ihm vorbehaltenen höchsten Rangstufe begrüßte:

 

„Der Segen und der Friede seien auf dir, o Prophet, und die Barmherzigkeit Allahs, in dieser Welt und im Jenseits!“

 

Das Gebet ist die Himmelsreise des Gläubigen und versorgt gleichzeitig diejenigen, die in der Lage sind, es zu begreifen, mit ihrem Anteil an den Ausschüttungen göttlicher Gnadengaben. Deshalb sollte man versuchen, aus dem Sprechen der Segenswünsche für den Propheten – Allah segne ihn und schenke ihm Frieden – während des Gebetes spirituellen Nutzen zu ziehen, denn diese Worte sind für uns eine Erinnerung an die Himmelsreise des Propheten – Allah segne ihn und schenke ihm Frieden. Seine Himmelreise ist ein Ausdruck und Symbol der höchsten Liebe Allahs des Allmächtigen zu Seinem Gesandten – Allah segne ihn und schenke ihm Frieden –, zu der Er ihn selbst auserwählt und eingeladen hat. Das direkt im Anschluß an die Segenswünsche ausgesprochene Glaubensbekenntnis verdeutlicht, welch große Ehre mit dem Glauben an den Einen Gott und mit der Dienerschaft Ihm gegenüber verbunden ist. Gleichzeitig weist es hin auf das Gebot, bei der Erwähnung seines  Namens stets  die  Segenswünsche  für  ihn auszu-sprechen – Allah segne ihn und schenke ihm Frieden! So ist das Gebet mit all seinen Bestandteilen wie ein von der wahren Essenz des Islam aus zu uns hin geöffneter Fensterladen. Diejenigen, die Allah lieben, kommen Ihm durch dieses Fenster näher und sehen erhabene Erscheinungen und Wirklichkeiten in der Schau göttlicher Mysterien. Allein aus diesem Grunde ist es gänzlich unvorstellbar, vollkommenen Glauben zu verwirklichen, ohne das Geheimnis der Erwähnung des Propheten – Allah segne ihn und schenke ihm Frieden – zu begreifen, welche sich mit dem göttlichen Namen Allahs zu den Worten des Glaubensbekenntnisses vereint.

 

So gebietet  Allah den  Gläubigen, als Widerspiegelung Seiner Liebe zu diesem Besten der Geschöpfe, Segenswünsche auf den Propheten – Segen und Friede seien auf ihm – zu senden und verkündet im gleichen Vers, daß Allah und Seine Engel ebenfalls Segenswünsche auf ihn senden:

 

„Wahrlich, Allah und Seine Engel senden Segenswünsche auf den Propheten, o ihr Gläubigen, wünscht Segen auf ihn und vollkommenen Frieden!“

 

Diejenigen, die sich ganz dem Gottesdienst und dem Gebet widmen, verlieren sich darin und sorgen sich nicht länger um die Angelegenheiten dieser Welt.

 

Bezüglich derer, die fähig sind, das Gebet in dieser Weise zu verrichten, sagt Meister Jalâluddîn Rûmî:

 

„Diese Leute verlassen in dem Moment, in dem sie das Gebet beginnen, diese Welt, so wie ein Opfertier in dem Moment, in dem es geopfert wird, die Welt verläßt.“

 

Dann ruft Rûmî dem Betenden zu:

 

„Du betest, in der Gebetsnische einer Moschee nach Mekka gewandt, aufrecht stehend wie eine Kerze. Sei weise und begreife die Bedeutung von ‚Allahu akbar!’: ‚O unser Herr, wir opfern uns in Deiner Gegenwart! Indem wir die Hände zu den Ohren erheben, lassen wir alles hinter uns und wenden uns zu Dir allein!’“

 

Und Rûmî sagt:

 

„Genau wie man zu Beginn des Gebets ‚Allahu akbar!’ sagt, spricht man auch beim Schlachten eines Opfertieres die Worte ‚Allahu akbar!’. So ist das Aussprechen des ‚Allahu akbar!’ zu Beginn des Gebets auch ein Symbol dafür, daß man seine egoistischen Wünsche und Begierden opfert.

 

In jenem Augenblick ist dein Körper wie Ismâ´îl und deine Seele ist wie Ibrahim – auf ihnen beiden sei der Friede. Wenn deine Seele sagt ‚Allahu akbar!’, entledigt sich dein Körper seiner Wünsche und Begierden. Und wenn du dann ‚Bismillahi-Rahmâni-Rahîm’ sagst, werden sie geopfert.

 

Diejenigen, die aufgereiht stehen im Gebet, in der Gegenwart Allahs, so wie sie auch am Tage des Gerichtes stehen werden, für die beginnt bereits die Befragung, die Abrechnung und das Plädoyer.

 

Wer im Gebet stehend weint, gleicht dem, der am Tag des Gerichts, nach der Auferstehung aus dem Grabe, vor dem Allmächtigen steht. Allah wird dich zur Rechenschaft ziehen und fragen: ‚Was hast du getan mit deinem Leben in dieser Welt? Was hast du erworben und was hast du für Mich mitgebracht?’

 

In der Gegenwart Allahs kommen Hunderttausende derartiger schwerwiegender Gedanken und Fragen ins Bewußtsein.“

 

Und er beschreibt den Ablauf des Gebets:

 

„Wenn er im Gebet steht, empfindet der Diener Scham, bis er sich beugt, weil er vor Scham nicht mehr stehen kann. In der Verneigung lobpreist er dann Allah, indem er sagt: ‚Gepriesen sei mein Herr, der All-Gewaltige’

 

Dann befiehlt Allah dem Diener: ‚Erhebe dein Haupt und beantworte genau eine Frage nach der anderen!’

 

Der Diener erhebt voller Scham sein Haupt, doch wegen der Vielzahl seiner Sünden kann er es nicht ertragen und wirft sich mit dem Gesicht zur Erde nieder.

 

Da ergeht der göttliche Befehl: ‚Erhebe dich aus der Niederwerfung und berichte, was du getan hast!’

 

Er erhebt wieder voller Scham sein Haupt, doch er kann es nicht ertragen und fällt zurück mit dem Gesicht auf die Erde.

 

Da sagt der Allmächtige: ‚Erhebe dein Haupt, ich will dich genau nach jeder einzelnen deiner Taten befragen!’

 

Die Worte Allahs sind von solch ehrfurchtheischender Gewalt, daß er nicht stehen kann und deshalb mit gebeugten Knien sitzen bleibt. Und der Allmächtige sagt: ‚Nun sprich! Habe Ich dir nicht Gnaden erwiesen? Wozu hast du sie benutzt? Hast du Mir je gedankt? Ich habe dir materiellen und spirituellen Reichtum gegeben, was hast du damit erworben?’

 

Der Diener wendet sein Gesicht nach rechts und entbietet der Seele des Propheten – Allah segne ihn und schenke ihm Frieden – und den Engeln den Friedensgruß und bittet: ‚O Herrscher der spirituellen Welt, legt Fürsprache für diesen Übeltäter ein, für diesen armen Sünder, der im Sumpfe seiner Taten untergeht!’

 

Und der Prophet – Allah segne ihn und schenke ihm Frieden – erwidert dem Diener auf dessen Gruß: ‚Die Zeit, um Hilfe und Beistand zu rufen ist vorbei, in der Welt hättest du Beistand erhalten können. Du hast keine guten Werke getan, du hast keinen Gottesdienst verrichtet, du hast deine Zeit mit nutzlosen Dingen vergeudet!’

 

Dann wendet der Diener sein Gesicht nach links. Er bittet seine Verwandten um Hilfe. Doch sie antworten ihm: ‚Bitte uns nicht um Hilfe! Wer sind wir denn? Du mußt deinem Herrn selber Rechenschaft ablegen!’

 

Der Diener, der von nirgendwo Hilfe bekommen kann, verzweifelt. Ohne Hoffnung von irgendwoher Beistand zu finden, wendet er sich an Allah, um bei Ihm Zuflucht zu suchen, erhebt seine Hände zum Bittgebet und sagt: ‚O mein Herr, Du bist der Erste und der Letzte, der Einzige, den der Diener anrufen und der Letzte, an den er sich wenden kann. Ich suche Zuflucht in Deiner endlosen Barmherzigkeit und Deinem grenzenlosen Mitgefühl!’“

 

Und der in den Strömen tiefgeistiger Versenkung schwimmende Meister Rûmî pflegte zu sagen:

 

„Schau auf diese frohen Zeichen im Gebet und sei dir bewußt, was dich erwarten könnte. Sammle dich und versuche, aus deinem Gebet sowohl körperlich als auch spirituell Nutzen zu ziehen! Wirf dich nicht nieder, wie ein Vögelchen, das Körner pickt! Nimm’ die Warnung des Propheten – Allah segne ihn und schenke ihm Frieden – ernst, der gesagt hat: ‚Der schlimmste Dieb ist der, der vom Gebet stiehlt!’

 

Wer sein Gebet in frommer Herzensdemut verrichtet und Allah im vollen Bewußtsein Seiner Liebe anfleht, dessen Gebet ist derart angenommen und von solch hohem Wert, daß Allah ihm ‚labbayk! , zuruft!“

 

Was die Unterschiede im Gebet bezüglich der darin gezeigten frommen Ehrerbietung angeht, hat der Prophet – Allah segne ihn und schenke ihm Frieden – gesagt:

 

„Zwei Menschen mögen zur gleichen Zeit am gleichen Ort zwei Gebetseinheiten (Rak´a) beten, doch zwischen ihnen ist ein Unter-schied wie zwischen Himmel und Erde.“

 

Deshalb weist der Qur’ân darauf hin, daß wirklich Gläubige diejenigen sind, die ihr Gebet in frommer Ehrerbietung verrichten:

 

„... und die, die ihr Gebet getreulich verrichten...“

 

und in der gleichen Sure heißt es:

 

„... diejenigen, die beständig im Verrichten ihrer Gebete sind“

 

Die Gotterkennenden verstehen diese Verse so:

 

„Die Bedeutung dieser Worte kann sich nicht nur auf die äußere Form des Gebets beziehen, weil diese vergänglich ist. Sie beziehen sich also auf die innere Wirklichkeit des Gebets, auf das Sich-Verneigen und Sich-Niederwerfen der Seele. Beständig im Gebet zu sein, bedeutet, sich niemals vom Gedenken an Allah zu entfernen.“

 

Und Maulânâ Jalâluddîn Rûmî interpretiert diese Verse so:

 

„Der Diener bewahrt den Zustand, den er während des Gebets erfährt, nach dem Gebet. So verbringt er sein ganzes Leben in rechtschaffenem Verhalten, frommer Ehrerbietung und schützt seine Zunge und Seele. Dies ist der Weg derer, die Allah lieben.“

 

Und er fährt fort:

 

„Das Gebet, das uns von schlechten Taten fernhält, wird fünfmal täglich verrichtet. Diejenigen die Allah lieben sind jedoch stets im Gebet, denn um die Sehnsucht ihrer Seelen und die göttliche Anziehung in ihrer Brust zu stillen, sind fünf Gebete am Tag niemals genug.

 

Das Gebet dessen, der in Liebe zu Allah entbrannt ist, gleicht dem Zu-stand eines Fisches im Wasser. Ein Fisch kann nicht ohne Wasser leben, die Seele des Allah Liebenden kann ohne ständiges Gebet keinen Frieden finden. Deshalb gilt der Satz: ‚Besuche mich gelegentlich!’ nicht für diejenigen, die Allah lieben, denn die Seelen der wahrhaft Liebenden dürsten immer nach Ihm.

 

Wenn ein Liebender nur einen Moment vom Gegenstand seiner Liebe entfernt ist, kommt es ihm vor, als seien es Tausende von Jahren. Und wenn er Tausende von Jahren mit dem Geliebten verbringt, ist es für ihn nur wie ein Augenblick. Das ist der Grund, weshalb derjenige, der Allah liebt, stets im Gebet ist, um dadurch Allah zu begegnen. Wenn er auch nur eine einzige Gebetseinheit verpaßt, kommt es ihm vor, als hätte er Tausende verpaßt.“

 

„O, ihr, die ihr Verstand besitzt! Die Begegnung im Gebet ist keine Angelegenheit, die der Verstand begreifen könnte. Sie läßt sich nur begreifen, indem ihr den Verstand dem Geliebten opfert und eure Herzen zum Leben erweckt!“

 

Diese ‚Erweckung des Herzens’ hängt davon ab, welcher (Gebets) Richtung (Qibla) sich der Diener zuwendet. Maulânâ Jalâluddîn Rûmî sagt:

 

„Die Gebetsrichtung der Könige ist die Krone und der Gürtel, die Gebetsrichtung der weltlich Gesinnten ist Gold und Silber. Die Gebetsrichtung derer, die dem Materiellen verfallen sind, sind ihre Götzen, die Gebetsrichtung derer, die das Spirituelle lieben, sind das Herz und die Seele. Die Gebetsrichtung der Asketen ist die Nische einer Moschee, die Gebetsrichtung der Achtlosen sind nutzlose Werke und die Gebetsrichtung der Faulenzer ist Schlafen und Essen. Die Gebetsrichtung des Menschen ist Wissen und Weisheit. Die Gebetsrichtung der Liebenden ist die ewige Vereinigung, die Gebetsrichtung der  Weisen ist  das Angesicht  Allahs.  Die Gebetsrichtung der Leute des Diesseits ist Besitz und Ansehen, die Gebetsrichtung des Derwisch sind die Regeln seines Ordens. Die Gebetsrichtung des Besessenen ist seine Leidenschaft, die Gebetsrichtung der Genügsamen ist Gottvertrauen.

 

Wir müssen uns bewußt sein, daß unsere Gebetsrichtung nicht das Gebäude der Ka´ba ist, sondern der Ort, an dem sie steht. Würde die Ka´ba an einen anderen Platz gebracht, könnte sie nicht länger unsere Gebetsrichtung sein.“

 

So soll man sein Herz auf Allah ausrichten, während man den Körper der Ka´ba zuwendet, denn die Gebetsrichtung des Herzens ist Allah.

 

Um den Zustand frommer Ehrerbietung im Gebet zu verwirklichen, ist es notwendig, die Absicht zum Gebet in vollkommener Weise zu fassen, in Übereinstimmung mit den Worten des Propheten – Allah segne ihn und schenke ihm Frieden: „Wahrlich, die Taten sind entsprechend ihren Absichten...“. Das heißt, daß wir uns bewußt werden sollten, in wessen Gegenwart wir sind, während wir beten. Und das bedeutet, genau auf  die Ausrichtung des  Herzens zu  achten, während man sich gleichzeitig von allen Zielen, außer dem göttlichen Wohlgefallen, trennt.

 

Man sollte etwas von der gewaltigen Erhabenheit Allahs spüren, während man sein Gebet mit den Worten ‚Allahu akbar!’ beginnt. Wenn jemand zu Beginn des Gebets seine Hände hebt, sollte er damit alles hinter sich lassen. Im Herzen sollte er die Freude darüber spüren, in der Gegenwart Allahs zu sein und sein Gebet sollte mit der Empfindung beginnen, diese vergängliche Welt um des Jenseits willen verlassen zu haben.

 

Während er steht, sollte der Betende seine Augen auf den Punkt richten, auf dem seine Stirn in der Niederwerfung zu ruhen kommt. Er sollte sich stets bewußt sein, daß er vor Allah steht, ein hilfloses Wesen, das vollkommen auf seinen Herrn und Schöpfer angewiesen ist. Dabei sollte er versuchen, zu denen zu gehören, die unser erhabener Herr vor Seinen Engeln mit Worten wie: „Welch vorzüglicher Diener!“ lobend erwähnt.

 

Bei der Rezitation sollte er darauf achten, die Worte richtig und Wort für Wort auszusprechen und sich ihres Sinnes bewußt zu werden, um über sie nachzudenken und sie in seinem Leben in die Tat umzusetzen. Allahs Gesandter – Allah segne ihn und schenke ihm Frieden – hat gesagt:

 

„Den Qur’ân zu rezitieren bedeutet, mit Allah zu sprechen!“

 

Deshalb sollte man bei der Qur’ânrezitation aufmerksam sein.

 

In der Verneigung soll man sagen: ‚Gepriesen sei mein Herr, der All-Gewaltige’ und dabei über diese Worte nachdenken und versuchen, sich der gewaltigen Größe Allahs bewußt zu werden.

 

Ebenso soll man versuchen, sich, während des Lobpreises in der Niederwerfung mit den Worten ‚Gepriesen sei mein Herr, der Aller-Höchste’, der unbeschreiblichen Erhabenheit des Allmächtigen zu nähern. Und in dem Wissen, daß der Diener in dieser Position der Niederwerfung seinem Herrn am nähesten kommt, sollten wir uns bemühen, Ihm unsere Seele ebenso wie unseren Körper in demütiger Niederwerfung zuzuwenden. Nur so können wir des Geheimnisses teilhaftig werden, das in dem heiligen Vers beschrieben wird:

 

„... und wirf dich (in Anbetung) nieder und komm’ näher (zu Allah)!“

 

In dieser Weise soll der Diener sich der Begegnung mit Allah erfreuen und  versuchen, zu  denen zu  gehören, die Allah lieben und sich nach Seiner Liebe sehnen.

 

Während des Sitzens, nach jeweils zwei Gebetseinheiten, sollte der Diener in respektvoller Ergebenheit die Worte des Tahiyyât rezitieren und, im Bewußtsein seiner Schwäche und Unvollkommenheit, die Vergebung und barmherzigen Segnungen seines Herrn erbitten.

 

Wenn er sich dann zuerst nach rechts und dann nach links wendet, und das Gebet beendet, wobei er zu den beiden Engeln, die ihn begleiten, sagt: ‚Der Friede sei auf euch und die Barmherzigkeit Allahs!’, sollte er die Freude seiner Begegnung mit Allah empfinden und sie mit den beiden Engeln auf seiner rechten und linken Schulter teilen.

 

Wenn das Gebet so verrichtet wurde, daß es das Wohlgefallen des Allmächtigen findet, erwidern die beiden Engel den Friedensgruß und verkünden, daß es in dieser und der nächsten Welt angenommen ist, so wie Allah es im edlen Qur’ân beschreibt:

 

„Friede sei auf euch, da ihr geduldig wart! Seht nun, wie wunderbar der Lohn der endgültigen Heimstatt ist!”

 

Solche Erfordernisse des Gebets, wie fromme Ehrerbietung, rechtes Benehmen und die Erfahrungen der Begegnung mit Allah, sind nicht außerhalb menschlicher Reichweite. Das Empfinden spiritueller Freude darf keinesfalls nur als ein zusätzliches, zierendes Element des Gebets betrachtet werden, denn das Gebet des Propheten – Allah segne ihn und schenke ihm Frieden –, der uns zu beten lehrte, übertrifft jede derartige Einschätzung bei Weitem. Und ebenso wie das seine, sind auch die Gebete seiner Gefährten – Allah möge mit ihnen zufrieden sein – und der erwählten Gottesfreunde, die ihnen nachfolgen, lichtvolle Beispiele für uns.

 

 Das Gebet des Propheten
– Allah segne ihn und schenke ihm Frieden –

 

Es wird überliefert, daß, während der Prophet – Segen und Friede Allahs seien auf ihm – das Gebet verrichtete, die in seiner Nähe Anwesenden ein weinendes Geräusch hörten, das aus dem Innern seiner Brust zu kommen schien. ´Alî – möge Allah mit ihm zufrieden sein – berichtete aus seiner Erinnerung eine diesbezügliche Beobachtung:

 

„Ich sah den Gesandte Allahs – Segen und Friede seien auf ihm – während der Schlacht von Badr weinend im Gebet unter einem Baum. (Er verbrachte so) die ganze Nacht bis zum frühen Morgen ...“

 

Es wurde sogar berichtet, daß aus dem Herzen des Propheten – Allah segne ihn und schenke ihm Frieden – während des Gebets Geräusche drangen, wie aus einem brodelnden Topf. So berichtete ´îscha – möge Allah mit ihr zufrieden sein:

 

„Wir pflegten von Zeit zu Zeit während des Gebetes eine Art von Geräusch aus der Brust des Propheten zu hören, als ob darin ein Kochtopf brodelte.“

 

Und ´îscha – möge Allah mit ihr zufrieden sein – berichtete ebenfalls, wie sich der Zustand des Gesandten Allahs – Segen und Friede seien auf ihm – zur Gebetszeit veränderte:

 

„Der Gesandte Allahs pflegte sich mit uns zu unterhalten und wir redeten mit ihm. Doch wenn die Gebetszeit kam, veränderte er sich und es schien, als ob er uns überhaupt nicht kenne und sein ganzes Wesen wandte sich Allah zu ...“

 

Dementsprechend sollte das erste Ziel unserer Seelen sein, dieser Segnungen des Gebetes teilhaftig zu werden. Auch wenn es uns nicht immer gelingen kann, sollten doch all unsere Anstrengungen in diese Richtung gehen. Der Zustand des Propheten – Allah segne ihn und schenke ihm Frieden – während des Gebets sollte stets unser Idealbild sein. Je mehr es uns gelingt, uns diesem zu nähern, desto größeren Nutzen ziehen wir aus unserem Gebet.

 

Es muß aber sicher auch deutlich gesagt werden, daß keine menschliche Bemühung zu vollkommener Perfektion führen kann, ohne daß auf dem Weg dorthin vielfältige Prüfungen zu bestehen sind. Das gleiche gilt auch für das Gebet. Zuerst wird das Gebet nur in Nachahmung der äußeren Form verrichtet und genau wie ein Künstler Zeit und Erfahrung braucht, um ein Kunstwerk zu vollenden, benötigt auch der Gottesdiener für das Erlernen des Gebets seine Zeit. Deshalb sollten all die, denen es nicht gelingt, ihr Gebet in perfekter Weise zu verrichten, die Hoffnung nicht aufgeben und sich auch weiter um Vervollkommnung bemühen. Genau wie man, um ein Gramm Gold zu gewinnen, Tonnen von Erde sieben muß, braucht man das dem entsprechende Maß an Ausdauer, um im Gebet zu Perfektion und innerem Frieden zu gelangen.

 

Dabei ist es von großem Nutzen, die folgenden Worte des Gesandten Allahs – Segen und Friede seien auf ihm – zu beachten:

 

„Wenn du betest, bete, als sei es dein letztes Gebet! Sag’ nichts, was du morgen bereuen könntest! Laß’ das Verlangen nach solchen Dingen, nach denen die Achtlosen verlangen!“

 

Die edlen Gefährten des Propheten – Allah segne ihn und sie und schenke ihnen allen Frieden – und ebenso  die  rechtschaffenen Gottes-freunde, die ihnen folgten, haben stets danach gestrebt, diese Ziele, die der Gesandte Allahs mit seinen Worten gesteckt hat, zu erreichen.