Der Letzte Atemzug

Allāh, der Allwahre, hat die Eigenschaft ewigen Bestehens [baqā’] in diesem Universum allein sich selbst vorbehalten. Aus diesem Grunde unterliegt – abgesehen von Seinem erhabenen Wesen – alles, was existiert, der Vergänglichkeit. Dementsprechend heißt es in einem der edlen Verse des heiligen Qur’ān:

كُلُّ مَنْ عَلَيْهَا فَانٍ

{Alles, was auf ihr (der Erde) existiert, ist vergänglich.}, und dies manifestiert sich in der mit den Worten

كُلُّ نَفْسٍ ذَآئِقَةُ الْمَوْتِ

{Jede Seele wird den Tod schmecken.} verkündeten Wirklich-keit. Unter diesem Gesichtspunkt ist es dringend notwendig, dass der Mensch jeden Augenblick seines Lebens in bewusstem Nachdenken [tafakkur] über diese Tatsache verbringt. Deshalb heißt es in einem weiteren Vers:

َوَجَاءَتْ سَكْرَةُ الْمَوْتِ بِالْحَقِّ ذَلِكَ مَا كُنْتَ مِنْهُ تَحِيدُ

{Und die Trunkenheit des Todes wird mit der Wahrheit kom­men: „Das ist es, wovor du auszuweichen pfleg­test!“}

Der Mensch wurde in diese vergängliche Welt geschickt, um darin geprüft zu werden. Sein wichtigstes Bestreben sollte deshalb darin bestehen, das Wohlgefallen Allāhs, des Erhabenen, zu erringen, um in die Heimstätte des Friedens, das Paradies, den Hort ewigen Friedens und höchster Glückseligkeit, einzugehen. Der Weg dorthin besteht in dem Bemühen, zu jenen zu gehören, welche die mit den Worten

يَوْمَ لَا يَنْفَعُ مَالٌ وَلَا بَنُونَ إِلَّا مَنْ أَتَى اللّٰهَ بِقَلْبٍ سَلِيمٍ

{An jenem Tage werden weder Besitz noch Nachkommen etwas nützen, sondern nur, wenn jemand mit reinem Herzen zu Allāh kommt.} beschriebene Stufe verwirklicht haben.

Dies wiederum ist nur durch Erziehung des menschlichen Egos [nafs] möglich. Der Kern der Erziehung des Nafs besteht in vollkommener Ergebenheit gegenüber dem Gesandten Allāhs – Segen und Friede seien auf ihm – sowie in enger Verbundenheit mit ihm und Gehorsam ihm gegenüber. Das bedeutet, Anteil an dem dreiundzwanzig Jahre währenden Zeitraum seines Prophetentums zu nehmen oder, besser gesagt, in die Sphären der Herzenswelt des ehrwürdigen Propheten – Allāh segne ihn und schenke ihm Frieden – einzutauchen. Denn Allāh, der Allwahre, hat den edlen Qur’ān durch den Erzengel Jibrīl direkt ins Herz des Gesandten Allāhs – Segen und Friede seien auf ihnen beiden – herabgesandt. Infolgedessen sind alle gottesdienstlichen Handlungen [‘ibāda], Aussprüche, Verhaltensweisen und Taten des Gesandten Allāhs – Segen und Friede seien auf ihm – Erklärungen zur Verdeutlichung der Bedeutungen des edlen Qur’ān. Angesichts dieser Wirklichkeit ist es notwendig, den ehrwürdigen Propheten – Allāh segne ihn und schenke ihm Frieden – in dem Bestreben, einen Anteil an seiner Herzenswelt zu erwerben, mehr zu lieben als das eigene Leben, materiellen Besitz, die eigene Familie und Verwandten und alles andere auf der Welt. Diese Liebe erfüllt das Innere des Gottesdieners mit der Liebe Allāhs, des Allwahren. Denn den Propheten – Allāh segne ihn und schenke ihm Frieden – zu lieben, bedeutet, Allāh zu lieben, und Allāh zu lieben, heißt, ihn zu lieben. Um an sein Ziel in der göttlichen Gegenwart zu gelangen, ist es für das Herz in der Tat unerlässlich, diese Stufe zu erreichen.

All dies sind nützliche Schritte in Vorbereitung auf den letzten Atemzug. Alle vorherigen Atemzüge verhalten sich zu diesem letzten Atemzug in ähnlicher Weise wie die Tropfen, die ein Glas füllen, zu jenem letzten Tropfen, der es zum Überlaufen bringt. Das heißt, unser letzter Atemzug ist das Ergebnis all unserer vorherigen Atemzüge. Deshalb hängt unser letzter Atemzug davon ab, wie wir die uns in der Gegenwart zur Verfügung stehenden Atemzüge nutzen. Jene erlesenen Gottesdiener, die ihr Leben in hingebungsvoller Liebe zu Allāh und Seinem Gesandten verbracht und es in rechtschaffener Beharrlichkeit auf dem Weg des Allmächtigen mit der Zierde rechtschaffener Taten geschmückt haben, tun mit den Worten des Glaubensbekenntnisses auf den Lippen ihren letzten Atemzug und ziehen dahin in die Gefilde ewiger Glückseligkeit. Ihnen wird die frohe Botschaft zuteil, die der ehrwürdige Prophet – Allāh segne ihn und schenke ihm Frieden – verkündete, indem er sagte: „Wer während seines letzten Atemzuges (aufrichtig) das Bekenntnis der göttlichen Einheit [kalimat al-tauhīd] ausspricht, der wird ins Paradies eingehen.“

Das heißt, dass diejenigen, die ihr Leben im Bewusstsein der göttlichen Einheit entsprechend dem Bekenntnis Lā ilāha illā Allāh [Es gibt keine Gottheit außer Allāh] verbracht haben, mit ihrem letzten Atemzug die Reise in die erhabene Gegenwart Allāhs, des Allwahren, antreten. Denn mit der absoluten Negation durch das Wort „Lā“ haben sie alle vergänglichen, Göttlichkeit zuschreibenden und von egoistischen Wünschen bestimmten Vorstellungen und Götzen aus dem Herzen geworfen und dieses anschließend durch das Wort „illā“ mit aufrichtiger, allein Allāh, dem Allwahren, geltender Gottesliebe erfüllt.

Man sollte sich bewusst sein, dass dieses, von den Händen der Macht erschaffene und mit tausendundeiner Zierde versehene Universum nicht mehr als ein der Vergänglichkeit unterworfener, vorübergehender Aufenthaltsort ist. Dabei ist in diesem Universum nichts ohne Sinn erschaffen. Für den Menschen besteht der Sinn seines irdischen Lebens in der Möglichkeit, ewige Glückseligkeit im Jenseits zu erlangen. Aus diesem Grunde ermahnt unser Herr Seine Diener mit den Worten:

يَا أَيُّهَا الَّذِينَ آمَنُواْ اتَّقُواْ اللّٰهََ حَقَّ تُقَاتِهِ

وَلاَ تَمُوتُنَّ إِلاَّ وَأَنتُم مُّسْلِمُونَ

{O ihr, die ihr glaubt, fürchtet Allāh wie es Ihm gebührt und sterbt nicht anders denn als gläubig Gottergebene.}

Der Tod, der ausnahmslos alle Lebewesen ereilt, ist der Mo­ment des Abschiednehmens von diesem vergänglichen Leben und für jeden Einzelnen sein ihm bestimmter, persönlicher Jüngster Tag. Dabei darf man nicht vergessen, dass der Mensch, unabhängig davon, ob ihm dies bewusst ist oder nicht, jeden Tag und jede Nacht zahllosen Ereignissen begegnet, die seinen Tod bedeuten können. Der Tod des Menschen lauert jeden Augenblick. Der ehrwürdige Maulānā bringt dies in seinem Mathnawī mit den Worten zum Ausdruck:

In Wirklichkeit befindet sich in jedem Moment ein Teil deines Wesens im Zustand des Sterbens.

Jeder Moment ist ein Zeitpunkt des Hingebens der Seele und jeden Moment neigt sich unsere Lebensspanne dem Ende zu.

Nähern wir uns nicht in der Tat mit jedem Tag, den wir uns von unserem Dasein in dieser vergänglichen Welt entfernen, um einen weiteren Schritt dem Tode? Reißen wir nicht mit jedem Tag ein weiteres Blatt vom Kalender unserer Lebensspanne ab? Angesichts des wie ein reißender Fluss dahinfließenden Lebens warnt uns der ehrwürdige Maulānā davor, in Achtlosigkeit zu verfallen, indem er sagt:

O Mensch, schau dir dein letztes Abbild im Spiegel an! Dabei denke daran, wie alle Schönheit mit dem Altern vergeht und dass jedes Gebäude eines Tages einstürzen wird, und lass dich nicht täuschen von der Lüge im Spiegel! 

Unser letzter Atemzug ist ein von tausendundeiner Weisheit umgebenes, wohlgehütetes göttliches Geheimnis. Das heißt, der Zeitpunkt, an dem uns der Tod – das mit der größten Sicherheit bevorstehende Ereignis – ereilen wird, hängt von der göttlichen Bestimmung ab. Dabei blickt der Mensch dem Tod im Verlauf seines Lebens unzählige Male ins Auge. Sind nicht durchlebte Krankheiten, unerwartete Ereignisse, plötzlich hereinbrechende Katastrophen sowie stets und überall lauernde lebensgefährliche Situationen, die der Mensch infolge seiner Achtlosigkeit und Schwäche gar nicht wahrnimmt, allesamt Zeichen dafür, dass nur ein äußerst dünner Schleier den Menschen vom Tode trennt?

Darum sollte der Mensch jeden Tag zahllose Male über die Bedeutung der oben zitierten Verse nachdenken und die ihm in dieser Welt immer wieder gegebenen Möglichkeiten und Chancen nutzen, denn im Jenseits sind diese unwiederbringlich verloren. Doch obwohl der Mensch sich dieser Realität bewusst sein sollte, betrachtet er bedauerlicherweise, gefangen in tausendundeiner Form von Achtlosigkeit, das Herabfallen eines Blattes seines Lebenskalenders nach dem anderen ohne die geringste Anteilnahme. Er verhält sich damit ganz so, als wäre er ein Felsbrocken, an dem die herabfallenden, Leben spendenden Regentropfen abperlen, ohne dass er daraus irgendeinen Nutzen zu ziehen vermöchte.

In Wirklichkeit sterben wir vom Tag unserer Geburt an täglich ein Stück und legen unmerklich Tag für Tag einen Abschnitt der Strecke in Richtung unseres Todes zurück. Wie wir uns jeden Augenblick der Zeit unseres Daseins dem anbrechenden Morgen der Wahrheit nähern, kommt in wunderbarer Weise in dem folgenden Vers des edlen Qur’ān zum Ausdruck:

وَمَنْ نُعَمِّرْهُ نُنَكِّسْهُ فِي الْخَلْقِ أَفَلَا يَعْقِلُونَ

{Und wem Wir ein langes Leben geben, den setzen Wir dem körperlichen Verfall aus. Wollen sie denn nicht nachdenken?}

Zu diesem Vers passen wunderbar die Worte des rechtschaffenen Gottesdieners Quss ibn Sa‘ida, der vor unserem ehrwürdigen Propheten – Allāh segne ihn und schenke ihm Frieden – lebte, dessen baldiges Erscheinen vorhergesagt hatte und in einer Ansprache auf dem Jahrmarkt Sūq ‘Ukāza in Bezug auf die Höhen und Tiefen des vergänglichen irdischen Daseins verkündete:

„O ihr Menschen! Kommt herbei, hört zu, merkt es euch und zieht daraus eine Lehre!

Wer lebt, der wird sterben. Wer stirbt, der wird vergehen. Wenn es regnet, sprießt das Grün.

Kinder werden geboren und nehmen den Platz ihrer Eltern ein. Am Ende vergehen sie alle.

Diese Kette des Geschehens setzt sich in Einem fort, alle folgen denen, die vor ihnen waren.“

Auch wir werden, wenn die uns bestimmte Zahl der Atemzüge, die der Allwahre uns in Seiner Güte geschenkt hat, aufgebraucht ist, an jenem Tag, an dem wir unseren letzten Atemzug tun, nachdem wir Abschied von all dem genommen haben, mit dem wir auf der Erde verbunden waren, oder vielleicht auch ganz ohne Abschied, dem Tod begegnen. Allerdings werden jene Gottesdiener, die Allāh, dem Allwahren, gegenüber wahrhaftig und Ihm in leidenschaftlicher Liebe zugetan sind, diese Begegnung nicht als Tod sondern vielmehr als die einer Hochzeitsnacht gleichende Erweckung zu einem gesegneten neuen Leben erfahren. Aus diesem Grunde ist es notwendig, den Sinn des in den weisen Worten „Sterbt, bevor ihr sterbt!“ verborgenen Geheimnisses zu begreifen. Der ehrwürdige Maulānā Rūmī erklärt dieses Geheimnis, indem er sagt: Sterbt, um zu neuem Leben zu erwachen!

Und der ehrwürdige ‘Alī – möge Allāh mit ihm zufrieden sein – sagte: „Die Menschen sind in tiefem Schlaf versunken, erst wenn sie sterben, wachen sie auf.“

Folglich sollten wir wissen, dass wahres Leben nicht ein entsprechend unserer tierischen Triebseele ganz von den Empfindungen des Egos und dem Verlangen nach weltlichen Dingen bestimmtes Dasein bedeutet, sondern nur in einer dem göttlichen Geist, der uns von Allāh, dem Erhabenen, eingehaucht wurde, gebührenden Existenz verwirklicht werden kann.

Der schlimmste Tod besteht demzufolge darin, Allāh, dem Allwahren, gegenüber achtlos zu sein und die Gelegenheit zu vertun, Sein Wohlgefallen zu erwerben. Darum sollte ein Gläubiger begreifen, wie er zu leben und zu sterben hat und sich der notwendigen Erziehung von der Stufe des Glaubens [īmān] hin zur Stufe der Vorzüglichkeit [ihsān] unterziehen. Denn niemand – abgesehen von den Propheten – kann sich sicher sein, auf welche Art und Weise er sterben und in welchem Zustand er wieder auferweckt werden wird. Da dies der Fall ist, hat die flehentliche Bitte des Propheten Yūsuf – auf ihm sei der Friede – an Allāh, den Erhabenen,

تَوَفَّنِي مُسْلِمًا وَأَلْحِقْنِي بِالصَّالِحِينَ

{Lass mich als Gottergebenen [Muslim] sterben und geselle mich zu den Rechtschaffenen!}

für uns in der Tat eine tiefe Bedeutung. In diesem Zusam-menhang ist es für jeden Gottesdiener dringend erforderlich, in seinem Herzen das rechte Gleichgewicht zwischen Furcht [khauf] und Hoffnung [rajā’] aufrechtzuerhalten. Die durch diesen seelischen Zustand hervorgerufene Wachsamkeit und Empfindsamkeit des Herzens sorgen dafür, dass man sein gesamtes Leben in der bangen Besorgnis verbringt, ob man seinen letzten Atemzug als Gläubiger tun wird oder nicht.

Das erste und deutlichste Anzeichen dafür, wie unser Zustand im Jenseits aussehen wird, offenbart sich in unserem Zustand während des letzten Atemzuges. In unserem Führer auf dem Weg der Rechtleitung, dem edlen Qur’ān, finden wir eine Reihe lehrreicher Beispiele jener heldenhaften Gläubigen, denen bei ihrem Streben nach dem ewigen Seelenheil im letzten Atemzug Erfolg beschieden war, und wir erfahren, welcher göttliche Lohn ihnen dafür zuteil wurde.

So wurden die Zauberer Fir‘auns angesichts des offenkundigen Wunders, welches der ehrwürdige Mūsā vor ihren Augen vollführte, mit der göttlichen Gnadengabe des Glaubens geehrt und warfen sich in Ergebenheit nieder, wobei sie verkündeten {„Wir glauben an den Herrn der Welten, den Herrn Mūsās und Hārūns.“} Der törichte Fir‘aun drohte ihnen überwältigt vom Zorn in dem Irrglauben, er besäße Macht über sie und könne ihr Gewissen mit Zwang beeinflussen: {„Ihr glaubt an Ihn bevor ich es euch erlaubt habe! […] Wahrlich, ich werde euch eure Hände und Füße wechselseitig abhacken, dann werde ich euch alle kreuzigen.“} Doch die Zauberer erwiderten, ganz von den ekstatischen Empfindungen wahren Glaubens erfüllt: „Deine Unterdrückung kann uns keinen Schaden zu­fügen, dein Übel herrscht nur in dieser Welt, doch die Glückseligkeit des Jenseits währt ewiglich!“, und hielten mit der Unerschrockenheit aufrichtigen Glaubens an ihrer Überzeugung fest.

Welch erhabene Lehre bietet diese Geschichte: Selbst mit grausamster Unterdrückung konfrontiert, galt ihre erste Sorge nicht, der Folter zu entkommen, sondern der Frage, ob es ihnen gelingen würde, im letzten Atemzug ohne im Glauben schwach zu werden als wahrhaft Gottergebene (Muslime) ihre Seele hinzugeben, so dass sie Allāh, den Allwahren, um Seinen Beistand anflehten, indem sie sagten:

رَبَّنَا أَفْرِغْ عَلَيْنَا صَبْرًا وَتَوَفَّنَا مُسْلِمِينَ

{„Unser Herr, erfülle uns mit Standhaftigkeit und lass uns als Gottergebene sterben!“}

So gingen sie, nachdem ihnen als Preis für die zuteilgewordene Rechtleitung wechselseitig Arme und Füße abgehackt worden waren, als hochgeehrte Märtyrer und Gottesfreunde in die Gegenwart des Allerhabenen ein.

Auch die grausamen Unterdrücker in der Geschichte der Ashāb al-Ukhdūd betrachteten es als Verbrechen, dass Menschen an Allāh glaubten, und warfen diese in die rotglühenden Flammen mit Feuer gefüllter Gräben. Doch die aufrichtigen Gläubigen gaben ihren Glauben auch angesichts dieser Folter nicht auf und gingen um ihres Glaubens an Allāh willen furchtlos in den Tod. In der Tat empfinden jene, die Allāh wirklich fürchten, keinerlei Furcht vor irgendetwas anderem!

Habīb al-Najjār von den Ashāb al-Qariya wurde wegen seines Glaubens und des Versuches, sein Volk rechtzuleiten, zu Tode gesteinigt. Doch als sich während seines letzten Atemzuges die Vorhänge dieser Welt zuzogen und die Fenster zur jener Welt, in die er eingehen sollte, öffneten und ihm die göttlichen Gnaden, die ihm zuteil werden sollten, gezeigt wurden, empfand er angesichts der Achtlosigkeit seines Volkes nichts als Mitleid und sagte: {Oh, wenn mein Volk doch wüsste!} Denn als Lohn dafür, dass er in dieser vergänglichen Welt klaglos die Steinigung ertrug, wurde ihm die Gnade ewiger Glückseligkeit gewährt.

Und in der Frühzeit des Christentums ließen die Römer, Griechen und Götzenanbeter die Gläubigen jener Tage in Kampfarenen von Löwen zerfleischen. Dabei galt der Kampf jener Gläubigen nicht dem Überleben zwischen den Reißzähnen der Löwen, sondern vielmehr der Bewahrung ihres Glaubens. Denn sie erduldeten diese schreckliche Unterdrückung, weil sie dem erhabenen Lohn Allāhs den Vorzug vor allem anderen gaben.

Zweifellos sind derart hervorragende Zustände das Ergeb-nis eines Lebens, welches ganz von den Empfindungen des Mit-Allāh-Seins geprägt ist. So besteht die höchste Stufe wahrer Gottesdienerschaft und zugleich ein unverzichtbarer Bestandteil derselben in der Fähigkeit, mit Allāh, dem Erhabenen, zu sein.

Wie überliefert ist, sprach einmal ein Prediger auf der Kanzel über die Ereignisse am Tag der Auferstehung. Unter den Anwesenden befand sich auch der ehrwürdige Scheikh Schiblī. Gegen Ende der Ansprache beschrieb der Prediger die Befragung, welcher sich der Verstorbene im Grab von Seiten Allāhs, des Erhabenen, unterziehen muss, wobei er aufzählte: „Es wird gefragt werden, wozu du dein Wissen genutzt hast. Es wird gefragt werden, was du mit deinem Hab und Gut angefangen hast. Du wirst bezüglich deiner Gottesdienste befragt werden. Du wirst gefragt werden, ob du darauf geachtet hast, was nach dem göttlichen Gesetz zulässig [halāl] und verboten [harām] ist. Du wirst nach diesem befragt werden. Und du wirst nach jenem gefragt werden …“, und er zählte eine lange Liste von Dingen auf.

Als er feststellte, dass der Prediger trotz all der vielen Einzelheiten, die er aufgezählt hatte, nicht zum Kern der Angelegenheit vorgedrungen war, unterbrach der ehrwürdige Scheikh Schiblī ihn mit den Worten: „Verehrter Herr Prediger, Allāh, der Erhabene, stellt eigentlich gar nicht so viele Fragen, sondern Er fragt: ‚O Mein Diener, Ich war die ganze Zeit bei dir, doch mit wem warst du zusammen?‘ “

Deshalb besteht die wichtigste Regel darin, mit Allāh, dem Allwahren, zu sein und seine Atemzüge nicht zu verschwenden. Dieser Sachverhalt kommt in folgendem berühmten Aus-spruch in wunderbarer Weise zum Ausdruck:

Verschwendet ist, wie wir jetzt begriffen,

jede Stunde, die wir ohne Dich verbrachten.

In Darlegung dieser Grundregel ergriff der Gesandte Allāhs – Segen und Friede seien auf ihm – einmal ‘Abd Allāh ibn ‘Umar – möge Allāh mit ihnen beiden zufrieden sein – an den Schultern und sagte: „Sei in dieser Welt wie ein Fremder oder ein Durchreisender, der seines Weges zieht!“

Im Bewusstsein dieses Gedankens pflegte Ibn ‘Umar – möge Allāh mit ihnen beiden zufrieden sein – in seinen Zusammenkünften stets zu sagen: „Wenn du den Abend erreicht hast, erwarte nicht, den Morgen zu erleben, und wenn du den Morgen erreicht hast, erwarte nicht, den Abend zu erleben! Sorge in Zeiten der Gesundheit für Zeiten der Krankheit vor und sorge solange du lebst vor für den Tod!“

Diese Worte, welche das Leben in seiner Vergänglichkeit wie einen Platzregen im Sommer erscheinen lassen, können uns dabei helfen, uns dem wahren Leben zuzuwenden. In der Tat brachte Allāhs Gesandter – Segen und Friede seien auf ihm – genau diese Empfindung in einem seiner Bittgebete zum Ausdruck, als er sagte: „O Allāh, das einzig wahre Leben ist das Leben des Jenseits!“

Die Lebensgeschichten der edlen Prophetengefährten, die dieses Geheimnis in bester Weise begriffen, sind voller unzähliger Tugenden, Weisheiten und lehrreicher Beispiele.

Khubayb (ibn ‘Ādī al-Khazrajī) – möge Allāh mit ihm zufrieden sein –, der von den Götzendienern gefangengenommen und im Begriff war, hingerichtet zu werden, hatte vor seinem Märtyrertod nur den einen Wunsch, dem ehrwürdigen Propheten – Allāh segne ihn und schenke ihm Frieden – seine von ganzem Herzen kommenden Friedensgrüße [salām] zu senden. Voller Trauer wandte er seine Augen gen Himmel und bat: „O Allāh, es gibt hier niemanden, der dem Gesandten Allāhs – Segen und Friede seien auf ihm – meine Friedensgrüße überbringen könnte; darum übermittle Du ihm Friedensgrüße von mir!“ Der Prophet – Allāh segne ihn und schenke ihm Frieden –, der sich zu jenem Zeitpunkt in Medina im Kreise seiner Gefährten befand, sagte auf einmal unvermittelt: „Wa ‘alayhi al-Salām!“, was bedeutet „Und auf ihm sei der Friede!“ Die Gefährten fragten überrascht: „O Gesandter Allāhs! Wem hast du mit diesem Gruß geantwortet?“, worauf jener erwiderte: „Dem Friedensgruß eures Bruders Khubayb.“

Darüber hinaus beschrieb unser ehrwürdiger Prophet – Allāh segne ihn und schenke ihm Frieden – Khubayb als „edelsten der Märtyrer“ und sagte über ihn: „Er ist mein Nachbar im Paradies!“

Hier nun einige weitere Beispiele für diese Art hingebungsvoller Liebe und großen Mitgefühls:

Nach der Schlacht von Uhud befahl unser ehrwürdiger Prophet – Allāh segne ihn und schenke ihm Frieden –, nach den als Märtyrer Gefallenen und Verletzten zu schauen. Dabei interessierte er sich ganz besonders für das Schicksal eines Gefährten namens Sa‘d ibn Rabī‘ – möge Allāh mit ihm zufrieden sein – und er schickte einen seiner Gefährten mit dem Auftrag zurück auf das Schlachtfeld, herauszufinden, was mit ihm geschehen war. Doch obwohl dieser das ganze Schlachtfeld sorgfältig absuchte und überall laut nach ihm rief, konnte jener Sa‘d – möge Allāh mit ihm zufrieden sein – nicht finden. Schließlich rief er mit seiner letzten Hoffnung in Richtung der Verletzten und als Märtyrer Gefallenen: „O Sa‘d, der Gesandte Allāhs hat mich geschickt, um herauszufinden, ob du dich unter den Verletzten oder unter den Märtyrern befindest.“ Als Sa‘d – möge Allāh mit ihm zufrieden sein –, der im Begriff war, seinen letzten Atemzug zu tun, hörte, dass der Gesandte Allāhs sich um ihn sorgte, nahm er alle Kräfte zusammen und antwortete mit schwacher, gebrochener Stimme: „Ich bin unter den Gefallenen!“, wobei er offensichtlich schon das Jenseits vor seinen Augen sah. Der Gefährte, der nach ihm gesucht hatte, lief sofort zu ihm hin und fand ihn, von zahllosen Schwerthieben geradezu durchlöchert, schwerverletzt am Boden liegend. Er hörte noch, wie Sa‘d – möge Allāh mit ihm zufrieden sein – mühsam flüsternd die äußerst bedeutsamen Worte sprach: „Ich schwöre bei Allāh, wenn ihr, solange ihr noch die Augenlider bewegen könnt, zulasst, dass unserem ehrwürdigen Propheten ein Leid zugefügt wird, anstatt ihn vor den Feinden zu beschützen, wird es für euch in der Gegenwart Allāhs keinerlei Ausrede geben!“ Diese Worte des Sa‘d ibn Rabī‘ – möge Allāh mit ihm zufrieden sein – waren sein Vermächtnis an die Gemeinschaft des Propheten – Allāh segne ihn und schenke ihm Frieden – und gleichzeitig sein Abschied von dieser vergänglichen Welt.

In diesem Zusammenhang ist auch der folgende, von dem ehrwürdigen Hudhayfa – möge Allāh mit ihm zufrieden sein – überlieferte Bericht von Bedeutung, weil er den erhabenen Charakter und die große Tugendhaftigkeit der Prophetengefährten während ihres letzten Atemzuges widerspiegelt:

„Es war während der Schlacht von Yarmūk. Nachdem der Höhepunkt der Schlacht überschritten und die Kämpfe etwas abgeflaut waren, lag eine Reihe von verletzten Muslimen von Pfeilen oder Lanzenstichen getroffen sterbend im glühendheißen Sand. Ich nahm meine Kräfte zusammen und begann, nach meinem Cousin Hārith zu suchen. Ich lief zwischen den Verwundeten, von denen viele in ihren letzten Atemzügen lagen, umher, bis ich ihn schließlich fand. Er lag in einer gro­ßen Blutlache und konnte schon nicht mehr sprechen. Seine Kräfte reichten gerade noch, um seine Augen zu bewegen. Ich zeigte ihm den ledernen Wasserbehälter, den ich zuvor gefüllt hatte, und fragte ihn: ‚Möchtest du etwas Wasser?‘

Seine Lippen waren von der Hitze völlig ausgetrocknet und er wollte sicher etwas trinken, doch er war nicht in der Lage zu antworten. Nur mit den Bewegungen seiner Augen teilte er mir seinen bedauernswerten Zustand mit. Ich öffnete den Wassersack und wollte ihm gerade etwas Wasser geben, als plötzlich von Ferne, aus der Richtung der Verletzten ‘Ikrimas Stimme zu hören war: ‚Wasser! Wasser! Bitte, einen Tropfen Wasser!‘

Als mein Cousin Hārith diese flehentlichen Rufe hörte, signalisierte er mir mit den Augen, das Wasser sofort ‘Ikrima zu bringen. Ich rannte zu ihm, vorbei an den Märtyrern, die im glühenden Sand lagen. Schließlich erreichte ich ‘Ikrima und wollte ihm gerade die Wasserflasche reichen, als wir auf einmal ‘Iyāsch stöhnen hörten: ‚Bitte gebt mir einen Tropfen Wasser! Um Allāhs willen, einen Tropfen Wasser!‘

Als ‘Ikrima diese flehentlichen Rufe vernahm, deutete er mit einer Handbewegung an, ich solle ‘Iyāsch das Wasser bringen. Genau wie Hārith verzichtete auch er darauf, zu trinken.

Als ich dann ‘Iyāsch zwischen den Toten und Ver­wundeten entdeckte, hörte ich seine letzten Worte: ‚O Allāh! Wir haben uns nicht gescheut, unser Leben für den Glauben zu opfern. Verwehre uns nicht die Stufe des Märtyrertums und vergib uns unsere Fehler!‘ Offensichtlich hatte ‘Iyāsch gerade den Trunk des Märtyrertums getrunken. Er sah zwar noch das Wasser, das ich ihm gebracht hatte, doch er hatte keine Zeit mehr, davon zu trinken. Er konnte gerade noch die Worte des Glaubensbekenntnisses aussprechen, dann verschied er.

Ich lief zurück zu ‘Ikrima, doch als ich ihm die Wasserflasche hinhielt, stellte ich fest, dass auch er zum Märtyrer geworden war. Ich rannte, so schnell ich konnte, zu meinem Cousin Hārith, doch alle Mühen waren vergebens, denn ich musste erkennen, dass auch er auf dem glühendheißen Sand seine Seele ihrem Schöpfer hingegeben hatte. So blieb traurigerweise der Wassersack auf dem Wege zwischen drei Märtyrern voll, ohne dass einer von ihnen davon getrunken hätte.“

Hudhayfa – möge Allāh mit ihm zufrieden sein – beschrieb seinen seelischen Zustand in jenem Moment mit den Worten: „Ich habe in meinem Leben viele bedeutsame Ereignisse erlebt, doch nichts hat mich derart berührt und inspiriert wie dieser Vorfall. Denn obwohl jene Männer nicht miteinander verwandt waren, zeigten sie ein jeder für den anderen ein solches Maß an Mitgefühl, Opferbereitschaft und Barmherzigkeit, dass dieses Erlebnis mich mit großer Bewunderung für sie alle erfüllt und in meinem Gedächtnis einen unauslöschlichen Eindruck hinterlassen hat.“

Möge Allāh, der Allwahre, uns allen in unserem letzten Atemzug ein gutes Ende bescheren! Möge Er unseren letzten Atemzug in dieser vergänglichen Welt zum ersten Atemzug in der Ewigkeit Seiner göttlichen Gegenwart werden lassen!

      Āmīn!